»Commander Perry«, fuhr er dann fort, »ich habe mich entschieden: Ich stimme Ihrer Empfehlung zu.« Er lächelte innerlich, als er die Überraschung auf Perrys Gesicht sah. »Wir werden sämtlichen Antragstellern den Zugang zu Erdstoß verweigern, bis der Gezeitensturm vorbei ist.«
»Ich bin mir sicher, dass das die richtige Entscheidung ist!« Perrys Selbstbeherrschung war beeindruckend, aber dennoch ließ sich seine Erleichterung nicht verhehlen.
»Womit nun eine weitere Entscheidung ansteht«, sagte Rebka. »Vielleicht sollte wir einfach eine Münze werfen. Also: Wer wird die schlechten Nachrichten Darya Lang und Atvar H’sial überbringen? Und schlimmer noch: Wer sagt es Louis Nenda?«
ARTEFAKT: LINSE.
UKA-Nr.: 1023
Galaktische Koordinaten: 29.334,229 / 1 8.339,895 / –831,22
Name: ›Linse‹
Sternen-/Planetenassoziation: keine, Element im freien Raum
Bose-Zugangsknoten: 108
Geschätztes Alter: 9,138 ± 0,56 Megajahre
Erforschungsgeschichte: Wahrscheinlich dürfte die gesamte Geschichte von ›Linse‹ für immer verborgen bleiben. Da sich dieses Artefakt in der Clade der Zardalu-Gemeinschaft befindet, gingen sämtliche früheren Aufzeichnungen im Zuge des Zusammenbruchs des Zardalu-Reiches verloren. Angesichts der Tatsache, dass die Zardalu ihr Hauptaugenmerk den Biowissenschaften widmen und rein physikalischen Phänomenen nur sehr begrenzte Bedeutung beimessen, ist es allerdings als höchst unwahrscheinlich anzusehen, dass von ihnen jemals eine systematische Erforschung von ›Linse‹ in Angriff genommen wurde.
Die belegte Geschichte von ›Linse‹ beginnt im Jahr 122 E. doch es wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass das Artefakt extragalaktischen Ursprungs ist. Diese lokale Besonderheit des Spiralarms wurde 388 E. aufgrund von Parallaxen-Effekten entdeckt. Der Versuch einer direkten Annäherung wurde im Jahr 2101 E. durch Kusra unternommen (ohne Rückreise), doch es konnten keinerlei physikalische Hinweise auf materielle Existenz gleich welcher Art gefunden werden. Paperl und Ula H’sagta (2377 E.) haben eine Polarisationsveränderung bei Laserstrahlen beobachtet, die durch die Region von ›Linse‹ geschickt wurden, auf diese Weise dessen genaue Position bestätigt und deren Ausmaße kartographiert.
Physisch-technische Eckdaten: Bei ›Linse‹ handelt es sich um eine fokussierend wirkende Raumregion von 0,23 Lichtjahren im Durchmesser und einer Dicke von anscheinend Null (sukzessive Einfallswinkel-Messungen wurden bis zu einer angenommene Dicke von einem Mikrometer durchgeführt). Die beschriebene Fokussierung erfolgt nur im Wellenlängenbereich von 0,110 bis 2,335 Mikrometer, bei einer Annäherung an einen Einfallswinkels von bis zu 0,077 Grad zur von der ›Linse‹ aufgespannten Ebene. Es gibt jedoch schwache Hinweise auf Wechselwirkung mit Strahlen einer Wellenlänge, die oberhalb von 0,1 Lichtjahren liegt (die geringe Energie derartiger Strahlung gestattet keine klare Differenzierung von der kosmischen Hintergrundstrahlung und lässt die entsprechenden Befunde zweifelhaft erscheinen). Alle anderen Formen des Lichts, sämtliche Partikel oder massive Objekte und sämtliche Gravitationswellen passieren die ›Linse‹ anscheinend ohne jede Einflussnahme. Die Fokussierung der Strahlung erfolgt anscheinend perfekt achromatisch, und zwar für sämtliche Wellenlängen des genannten Bereiches. Innerhalb dieses Bereiches fungiert ›Linse‹ wie ein beugungsbegrenztes Fokussierungswerkzeug mit einer effektiven Apertur von 0,22 Lichtjahren und einer Brennweite von 427 Lichtjahren. Mit dessen Hilfe konnten planetare Details in Galaxien beobachtet werden, die sich in mehr als einer Million Parsec Entfernung befinden.
Physikalische Eigenschaften: In diesem Abschnitt muss bedauerlicherweise eine ausschließende Liste all der Dinge vorgelegt werden, die ›Linse‹ nicht ist. Die derzeitige Wissenschaft und Technik vermögen keine haltbare Ansätze vorzulegen, was ›Linse‹ ist.
Die ›Linse‹ ist nicht aus Partikeln zusammengesetzt, die den heutigen Bewohnern des Spiralarms bekannt wären. Es handelt sich nicht um eine Raum-Zeit-Singularität, da eine derartige Singularität nicht nur Licht gewisser Wellenlängen beeinflussen kann, ohne sich auf andere Formen der Materie und der Strahlung auszuwirken. Aus dem gleichen Grund kann es sich auch nicht um ein Konstrukt aus gebundenen Gravitonen handeln. Es kann keine Superstring- oder Superschleifenstruktur besitzen, da keinerlei Strahlung, weder spontan noch induziert, beobachtet werden kann.
Mutmaßlicher Zweck: Unbekannt. Die ›Linse‹ stellt ein Paradebeispiel für das Makroingenieurswesen der Baumeister dar, sowohl was das Ausmaß der Leistung als auch das des hinter diesem Phänomen stehenden Geheimnisses betrifft. Der spezifizierte Wellenlängenbereich hat allerdings einige Forscher, die sich intensiv mit diesem Artefakt befasst haben, zu der Spekulation angeregt, es könne Aufschluss über den Spektral-Sensitivitätsbereich der Augen der Baumeister selbst geben. Da es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass die Baumeister über irgendetwas verfügt haben, was dem Analogon der Augen eines Menschen oder eines Hymenopters entspricht, ist diese Vermutung nur von marginalem Interesse.
Weiterhin wurde die Vermutung aufgestellt, diese ›Linse‹ moduliere das durch sie hindurchfallende Licht in einer bisher nicht bekannten Art und Weise. Sollte dem so sein, dann wäre die Funktion dieses Artefaktes, die Tatsache, dass es als fokussierende Linse fungiert, nicht mehr als nur ein zufälliger Nebeneffekt des eigentlichen Zwecks der Struktur.
10
Gezeitensturm minus achtzehn
»Herein!«, rief Darya Lang automatisch, als sie hörte, wie zaghaft an ihre Zimmertür geklopft wurde. Dann schwang die Tür auch schon auf.
»Herein!«, wiederholte sie noch, bevor sie erkannte, dass ihr Besucher bereits hereingekommen war, zumindest teilweise. Keinen halben Meter über dem Boden spähte ein runder, schwarzer Schädel mit zahlreichen, ringförmig angelegten, hellen Augen durch den Spalt der halb geöffneten Tür.
»Sie versteht Sie nicht, kein Wort!«, meinte nun eine raue Stimme. »Die kennt in der Menschensprache nur ein paar Befehle. Rein da!«
Stirnrunzelnd trat ein untersetzter, dunkelhäutiger Mann mit großen Schritten durch die Tür und schob dabei ein kleinwüchsiges fremdartiges Lebewesen vor sich her. An dem starren Halfter um den untersetzten Brustkorb des Hymenopters war eine schwarze Leine befestigt, die der Mann in der Hand hielt.
»Ich bin Louis Nenda. Das hier …«, ein kurzes Zucken an der Leine, »… ist Kallik. Gehört mir.«
»Hallo. Ich bin Darya Lang.«
»Ich weiß. Wir müssen miteinander reden.«
Der war bisher der schlimmste. Angesichts der Manieren, die im Phemus-Kreis an den Tag gelegt wurden, verlor Darya langsam die Geduld. Aber schlechte Manieren schienen ansteckend zu sein. »Vielleicht fühlen Sie ja den Drang zu reden. Ich jedenfalls nicht. Also warum gehen Sie nicht gleich wieder?«
Unerwarteterweise grinste er. »Warten Sie erst einmal ah! Wo können wir reden?«
»Gleich hier. Aber ich weiß immer noch nicht, warum wir das tun sollten!«
Er schüttelte den Kopf und deutete mit dem Daumen ruckartig auf J’merlia. Der Lo’tfianer hatte sich weit genug erholt, dass er aus dem Stützkorsett hatte befreit werden können, doch er zog es immer noch vor, sich an einem Ort aufzuhalten, an dem er sich für die Schlafperiode befestigen konnte. »Was ist mit der Stabheuschrecke da?«