»Das ist in Ordnung so.« Darya beugte sich vor und warf einen Blick auf die Okularmembran. »Er ruht sich nur aus. Er wird keine Schwierigkeiten machen.«
»Ist mir egal, was er tut. Was ich zu sagen habe, kann ich nicht vor diesem Käfer da sagen.«
»Dann will ich es, glaube ich, gar nicht hören. J’merlia ist kein ›Käfer‹. Er ist ein Lo’tfianer, und er ist genauso vernunftbegabt wie Sie.«
»Das ist nicht sonderlich beeindruckend.« Wieder grinste Nenda. »Manche sagen, ich sei mindestens so bescheuert wie ein Varnianer. Also los, suchen wir uns einen Platz zum Reden.«
»Können Sie mir einen einzigen guten Grund nennen, warum ich mit Ihnen würde reden wollen?«
»Klar. Ich kann Ihnen sogar 1.237 gute Gründe nennen.«
Darya starrte ihn an. »Geht es hier um die Artefakte der Baumeister? Es sind doch bisher erst 1.236 entdeckt worden.«
»Ich habe von Gründen gesprochen. Und ich wette, wir können uns beide einen sehr guten Grund ausdenken, miteinander zu reden, bei dem es nicht um ein Artefakt geht.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Doch Darya spürte schon, wie ihr Gesicht sie zu verraten drohte — wie immer.
»Kallik, sitz!« Dann ließ Louis Nenda seinen Worten noch einen Reihe Pfeif- und Grunzlaute folgen. Anschließend wandte er sich wieder Darya zu. »Sprechen Sie zufällig ein bisschen Hymenoptisch? Nein? Hab ich mir schon gedacht. Ich hab ihr gesagt, sie soll nach da drüben gehen und den Käfer im Auge behalten. Kommen Sie mit raus! Sie wird zu uns kommen, wenn der Käfer aufwacht und Sie brauchen sollte.«
Er löste die Leine von Kalliks Halfter, ging zur Tür und verließ dann das Gebäude, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzuschauen, ob Darya ihm folgte oder nicht.
Was wusste er wohl? Was konnte er wissen? Die Logik sagte Darya: ›Nicht das Geringste‹. Dennoch stellte sie fast widerwillig fest, dass sie ihm auf die durchweichte Oberfläche der Schlinge hinaus folgte.
Die Wetterzentrale von Sternenseite hatte für den nächsten Tag einen weiteren heftigen Sturm angekündigt; im Augenblick jedoch hatte sich der Wind beruhigt, nur gelegentlich fegten vereinzelte, feuchtwarme Böen über die Schlinge. Gemeinsam standen Mandel und Amarant am Himmel, undeutliche helle Flecken hinter der Wolkendecke. Amarant schien zusehends heller zu werden. Die Grünpflanzen der Schlinge schimmerten bereits in einem leichten Kupferton, und auch die Farbe des Himmels im Osten erinnerte ein wenig an Rost. Mit selbstbewussten Schritten trat Louis Nenda ins Unterholz — der macht sich keine Sorgen über Riesenschildkröten, dachte Darya. Doch jetzt sollten die sowieso schon alle draußen auf dem Ozean sein, in Sicherheit, dort wo sie den Gezeitensturm würden abwarten können.
»Das ist weit genug draußen!«, rief sie ihm hinterher. »Jetzt sagen Sie mir, was Sie eigentlich wollen!«
Er drehte sich um und kam wieder zurück, auf sie zu. »Stimmt, das ist weit genug. Ich will bloß keine weiteren Zuhörer haben, das ist alles. Und ich nehme an, Ihnen geht es genauso.«
»Mir ist es egal. Ich habe nichts zu verbergen.«
»Ach ja?« Er lächelte zu ihr hinauf, schließlich war er einen halben Kopf kleiner als sie. »Komisch, ich war bisher der festen Überzeugung, die Lage sehe anders aus. Sie sind doch Darya Lang, die Expertin der Vierten Allianz für die Technologie und die Geschichte der Baumeister?«
»Ich bin keine Expertin, aber ich interessiere mich sehr für die Baumeister. Das ist ja nun wirklich kein Geheimnis.«
»Das stimmt. Und Sie sind berühmt genug, als dass die Baumeister-Fachleute aus der Zardalu-Gemeinschaft alles über Ihre Arbeit und den Lang-Katalog wissen. Sie werden doch ständig zu Konferenzen und Symposien eingeladen, oder nicht? Aber Sie haben noch nie eine solche Reise angetreten, das sagen alle, nicht seit einem Dutzend Jahren. Jeder, der Darya Lang unbedingt treffen will, muss sich auf den Weg nach Wachposten-Tor machen. Nur dass Sie seit ein paar Monaten dort nicht mehr zu erreichen sind. Plötzlich machen Sie sich auf und gehen auf Reisen. In das Dobelle-System.«
»Ich möchte ›Nabelschnur‹ einer genaueren Untersuchung unterziehen.«
»Klar. Nur dass laut dem Lang-Katalog UKA279 …«
»UKA269«, korrigierte Darya ihn unwillkürlich.
»’tschuldigung, UKA269! Egal, da heißt es — macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie zitiere? — ›Nabelschnur‹ sei ›eines der einfachsten und das am leichtesten zu verstehende sämtlicher bekannten Artefakte der Baumeister, und ist daher für die meisten ernstlich an der Technologie der Baumeister interessierten Wissenschaftler nur von nachgeordnetem Interesse‹. Erinnern Sie sich, das geschrieben zu haben?«
»Natürlich erinnere ich mich daran! Na und? Ich handle ganz frei, nur in meinem eigenen Auftrag; ich kann es mir doch anders überlegen. Und ich kann gehen, wohin ich will.«
»Das können Sie. Nur haben Ihre Chefs auf Miranda einen gewaltigen Fehler gemacht. Die hätten den Leuten, die nach Ihnen gefragt haben, sagen sollen, Sie seien auf dem Weg zu ›Tantalus‹, ›Kokon‹, ›Leuchter‹ oder zu einem der anderen wirklich großen Baumeister-Attraktionen! Oder vielleicht hätten sie einfach sagen sollen, Sie würden Urlaub machen.«
»Und was haben sie nun gesagt?« Sie hätte nicht nachfragen sollen, aber sie musste es einfach wissen. Was hatten diese Trottel von der Regierung ihr jetzt wieder eingebrockt?
»Sie haben gar nix gesagt. Überhaupt nix. Die haben einfach geschwiegen und jedem, der nach Ihnen gefragt hat, nur gesagt, er solle sie nicht weiter belästigen und dass Sie ja in ein paar Monaten zurück seien. So etwas sagt man nicht, wenn man nicht will, dass die Leute anfangen herumzuschnüffeln.«
»Aber Sie haben mich ohne Schwierigkeiten gefunden.« Darya war sehr erleichtert. Er war wirklich eine Plage, aber wenigstens wusste er nicht das Geringste, und es war nicht ihre Schuld, dass er jetzt hier war.
»Klar doch. Wir haben Sie gefunden. Das war ja auch nicht schwer, nachdem wir erst einmal angefangen haben zu suchen: Zu jedem Bose-Transit gibt es Transfer-Informationen.«
»Also sind Sie mir hierher gefolgt. Und was wollen Sie jetzt von mir?«
»Habe ich gesagt, wir seien Ihnen gefolgt, Frau Professor?« Bei ihm klang ihr Titel wie eine Beleidigung. »Das sind wir nicht. Wissen Sie, wir waren bereits auf dem Weg hierher. Aber als wir dann erfuhren, dass Sie ebenfalls hier gereist seien, da wusste ich: Wir müssen einander unbedingt treffen. Kommen Sie, Schätzchen!«
Louis Nenda griff nach Daryas Arm und führte sie durch das dichte Unterholz. Sie kamen zu einem verschlungenen Wulst aus Ranken und waagerecht wachsenden, holzartigen Stämmen, die sich so aufwölbten, dass sie eine lang gestreckte, unregelmäßig geformte Sitzbank ergaben. Ein leichter Druck von seiner Hand, und sie sank wie gewünscht auf diese natürliche Bank nieder. Ihre Knie zitterten.
»Wir mussten einander unbedingt treffen«, wiederholte er. »Und Sie wissen auch warum, nicht wahr? Sie tun so, als wüssten Sie das nicht, Darya Lang, aber Sie wissen es verdammt genau!« Er setzte sich neben sie und tätschelte ihr vertraulich das Knie. »Kommen Sie, jetzt ist Beichtstunde! Sie und ich, wir haben einander viel zu erzählen, Schätzchen! Richtig persönliche Dinge. Soll ich vielleicht anfangen?«
Wenn die Ergebnisse mir doch so offensichtlich erscheinen, warum haben dann andere nicht die gleichen Schlüsse gezogen?
Darya erinnerte sich daran, genau das gedacht zu haben, lange bevor sie sich auf den Weg in das Dobelle-System gemacht hatte. Und endlich konnte sie diese Frage beantworten. Andere hatten die gleichen Schlüsse gezogen. Das Geheimnisvolle war nur, dass jemand, der so einfach gestrickt, so direkt und so in jeder Hinsicht unintellektuell war wie Louis Nenda, das fertiggebracht hatte.