Выбрать главу

»Schätze schon.«

Rebka verabscheute Gespräche, bei denen er mit Graves allein war. Diese blauen Augen, in denen beständig der Wahnsinn zu funkeln schien, machten ihm regelrecht Angst. Selbst wenn es eine völlig belanglose, einfache Konversation zu sein schien, vermutete er, dass es irgendeinen Hintersinn gab; nie wusste er, wie viel von dem, was gesagt wurde, von diesem Mnemotechnik-Zwilling stammte, und dieser Umstand trug beträchtlich zu seinem Unwohlsein bei. Steven hatte ein gewisses Faible für das Herunterbeten endloser Fakten und für alberne Witze, Julius für geistreiche Bemerkungen und Anspielungen. Das aktuelle Gespräch mochte reine Grübelei des einen sein oder eine sehr verschlagene Methode des anderen, ihn auszuhorchen.

Graves grinste in sich hinein. »Ich weiß, Sie halten es für nichts Besonderes, dass wir die Lebensmittel von Opal oder von Erdstoß verdauen können. Aber es ist etwas Besonderes! Zum einen entkräftet diese Tatsache eine alte, sehr beliebte Theorie, warum die Cecropianer und die Menschen sich nicht gegenseitig zerfleischt haben, als sie einander begegnet sind. Es heißt immer, sie seien einem Kampf ausgewichen, weil sie nicht an den gleichen Rohstoffen interessiert gewesen seien. Aber das ist Unfug. Sie sind nicht nur an den gleichen anorganischen Rohstoffen interessiert gewesen, den Metallen und den anderen Rohmaterialien, sie sind auch — dank ein wenig bakterieller Hilfe — in der Lage, die gleichen Lebensmittel zu verstoffwechseln. Ein Mensch könnte einen Cecropianer essen, sollte die Notwendigkeit auftreten. Oder eben anders herum. Und das bringt uns zu einem neuen Geheimnis.«

Rebka nickte aufmunternd, um anzudeuten, dass er sehr wohl zuhörte. Es war besser, hier eher als Stichwortgeber zu fungieren, denn selbst zu viel Worte zu machen.

»Wir schauen uns einen Cecropianer an«, fuhr Graves fort, »einen Lo’tfianer oder einen Hymenopter, und wir sagen: ›Wie fremdartig die doch sind! Wie anders als wir!‹ Aber das eigentliche Geheimnis verbirgt sich genau im Gegenteil dieser Aussage: Wir sollten uns besser fragen, warum wir einander eigentlich doch so ähnlich sind! Wie ist es möglich, dass Lebewesen, die sich in verschiedenen Claden entwickelt haben, die ihre Wurzeln auf unterschiedlichen Welten haben, die von Sonnen völlig anderer stellarer Klassifizierung gewärmt wurden, die durch völlig unterschiedliche Biologie und Biochemie voneinander geschieden sind, die nicht einen einzigen Punkt in ihrer Entwicklungsgeschichte gemeinsam haben — wie kann es sein, dass sie einander so ähnlich sind, ähnlich genug, um das Gleiche essen zu können? Dass ihre Körperformen so vergleichbar sind, dass wir Erd-Analoga benennen können — Cecropianer, Hymenoptera, Chrysemiden —, bei Lebewesen von derart weit entfernten Sternen. Dass wir miteinander reden können, auf die eine oder andere Art jedenfalls, und einander bemerkenswert gut verstehen. Dass wir im weitesten Sinne vergleichbare Verhaltensstandards besitzen. Sogar in so ausgedehntem Maße, dass ein gemeinsamer Ethik-Rat sich auf Regeln einigen kann, die für den gesamten Spiralarm gültig sind. Wie kann so etwas sein?

Aber der ganze Spiralarm ist ja voller Rätsel und Geheimnisse.«

Auf irgendetwas wollte Graves hinaus, dessen war sich Rebka sicher. Doch sein Gegenüber würde noch einen weiten Weg zurücklegen müssen, bis seine Worte Sinn ergeben mochten. Im Augenblick schien Graves lediglich eine Philosophie-Vorlesung zu halten.

»Viele Rätsel und Geheimnisse«, fuhr Graves fort. »Die Baumeister — natürlich. Was ist mit ihnen geschehen? Wie sah ihre Physiologie aus, wie ihre Geschichte, zu welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen kamen sie? Was ist die Funktion von ›Linse‹, von ›Paradox‹, von ›Leuchter‹ oder von den ›Phagen‹? Von allen Konstrukten der Baumeister sind die Phagen gewiss die sinnlosesten. Wenn man es Steven gestattet, dann wird er stundenlang über dieses Thema dozieren.«

Wieder nickte Rebka. Aber, Herr im Himmel, lass diesen Kelch an uns vorübergehen!

»Und dann gibt es weitere Rätsel, Rätsel jüngeren Datums, die mich immens verwirren. Denken Sie an die Zardalu! Vor ein paar Jahrtausenden haben sie über Tausende von Welten geherrscht. Von den Spezies, die sie sich unterworfen hatten, hören wir, sie seien tyrannisch gewesen, skrupellos, gnadenlos. Doch als ihr Reich zusammenbrach, haben genau diese Vasallen-Spezies rebelliert und jeden einzelnen Zardalu umgebracht. Völkermord. War dieses Vorgehen nicht barbarischer als alles, was die Zardalu selbst jemals getan haben? Hatten sie eine andere Vorstellung davon, was Ethik ist, eine Vorstellung, die für uns schlichtweg als solche nicht einmal erkennbar gewesen ist? Wenn ja, dann waren sie wirklich ›fremdartig‹; doch wir werden niemals erfahren, in welcher Hinsicht. Was hätte ein Ethik-Rat mit den Zardalu gemacht?«

dass ein gemeinsamer Ethik-Rat sich auf Regeln einigen kann … Plötzlich sah Rebka die Qual in Graves faltigem Gesicht, und sofort schoss ihm dieser Halbsatz von vorhin wieder durch den Kopf. Wenn Graves eine alternative, andersartige Moral der Zardalu in Erwägung zog: Stellte Graves hier die Regeln in Frage, die sein eigener Rat aufgestellt hatte?

Graves blickte Rebka nicht in die Augen. »Manchmal frage ich mich, ob die Ethik-Richtlinien, für die wir uns entschieden haben, nicht vielleicht genau so lokal und so eingeschränkt sind wie unsere Körperformen und unsere Denkmuster. Die Baumeister verfügten über eine Technologie, die uns völlig fremdartig erscheint. Sie passt nicht zu unserer Weltsicht. Wir wissen nicht, wie sie ihre Artefakte konstruiert haben, wir wissen nicht, warum sie sie konstruiert haben. Und dennoch erzählen uns unsere Wissenschaftler, dass es nur einen einzigen, allgemein gültigen Satz Naturgesetze gibt, die auf das ganze Universum Anwendung finden — genauso wie unsere Philosophen uns erzählen, dass wir ein System universeller Ethik besitzen! Ich frage mich, ob die Ethik der Baumeister uns ebenso fremdartig erscheinen würde wie ihre wissenschaftlichen Leistungen. Oder ob sie, wenn sie in der Lage wären mitanzusehen, wie wir unsere unterschiedlichsten Spezies behandeln, nicht entsetzt wären über unsere Voreingenommenheit und unser mangelndes Urteilsvermögen.

Ich will damit sagen, dass wir alle noch etwas lernen müssen, Captain, und das ist das Folgende: Die Regeln, die von einem beliebigen Rat aufgestellt werden, müssen dynamisch sein. Ganz gleich, wie das von einem Durchschnittsindividuum gesehen werden mag, sie können nicht für alle Zeiten unveränderlich sein, in Stein gemeißelt und in Stahl gegossen! Wir müssen sie ständig hinterfragen. Stets auf der Suche nach Optimierung sein.«

Plötzlich warf Graves Rebka einen finsteren Blick zu, wandte sich um und eilte die Rampe zur oberen Ebene der Kapsel hinauf.

Rebka blieb sitzen und starrte ihm hinterher. In seinen letzten Sätzen hatte ein gewisser Kontrapunkt gelegen, fast als hätten zwei Stimmen gleichzeitig gesprochen. War es möglich, dass Julius und Steven Graves hier eine Art inneren Dialog geführt hatten, und Rebka war nicht mehr als ein zufälliger Zuhörer? Vielleicht wollte Julius in der einen Art und Weise handeln und Steven eben in genau der anderen?

Die Vorstellung war ungeheuerlich, aber auch nicht unwahrscheinlicher als die Entwicklung eines individuellen Bewusstseins in einem Mnemotechnik-Zwilling. Und wenn die Zusammenarbeit mit Julius Graves auf Erdstoß schon schlimm würde: die Zusammenarbeit mit einer instabilen Mischung aus Julius und Steven würde schlichtweg unmöglich sein.

Zwillinge, die innerhalb der gleichen Hirnschale ständig um die Macht stritten? Rebka erhob sich, und als er das tat, bemerkte er, dass das Deck viel weniger Druck auf seine Fußsohlen ausübte. Sein Körpergewicht betrug nur noch wenige Pfund. Sie mussten sich ›Mittelstation‹ nähern. Er hielt auf die Rampe zu und fragte sich, ob Max Perry immer noch stocksteif, wie festgefroren, in Richtung Erdstoß starrte. Rebka kam sich mehr und mehr vor wie der Wärter einer Horde hoch talentierter Bekloppter.