Bei seiner ersten Reise nach Erdstoß war Rebka recht erpicht darauf gewesen, ›Mittelstation‹ zu betreten und genauestens zu untersuchen. Die Menschen hatten die Station modifiziert, umgebaut und teilweise ausgeschlachtet; doch es war immer noch Baumeister-Technologie, und das machte ›Mittelstation‹ so faszinierend. Doch als Max Perry sich entschieden hatte, keine Zeit mit der Untersuchung von ›Mittelstation‹ zu verbringen — er hatte nicht aus freien Stücken darauf verzichtet — hatte Rebka, der selbst ebenfalls immens neugierig auf Erdstoß war, sich dieser Entscheidung nicht entgegengestellt.
Jetzt war es viel dringender erforderlich, Erdstoß zu erreichen — noch dreizehn Dobelle-Tage, dann würde der Gezeitensturm seinen Höhepunkt erreichen; das zumindest meldete Rebkas innere Uhr: nur noch einhundertundzehn Stunden! Los jetzt! —, doch ausgerechnet in dieser zeitlichen Bedrängnis bestand Perry plötzlich darauf, bei ›Mittelstation‹ einen Zwischenstopp einzulegen.
»Schauen Sie selbst!« Perry deutete auf die Statusanzeige der Kapsel. »Sehen Sie den Energieverbrauch? Der ist zu hoch!«
Rebka schaute hin und konnte mit dem, was er sah, nicht das Geringste anfangen, geschweige denn daraus eine Notwendigkeit gleich welcher Art ableiten. Das Gleiche galt für Graves. Wenn Perry sagte, dass hier irgendetwas nicht stimmte, dann mussten die anderen ihm glauben. Für Erfahrung gab es keinen Ersatz, und wenn es um ›Nabelschnur‹ ging, schlug Perry sie alle mit seinem Wissen.
»Sind wir in Gefahr?«, fragte Graves.
»Zumindest nicht unmittelbar.« Nachdenklich rieb sich Perry die Nase. »Aber wir können nicht riskieren, nach Erdstoß hinunterzugehen, solange wir nicht wissen, warum wir so viel mehr Energie verbrauchen als sonst. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, dass uns beim Abstieg die Energie ausgeht. Und die Zentralsteuerungen befinden sich alle auf ›Mittelstation‹. Wir werden dort anhalten und herausfinden müssen, was eigentlich los ist.«
Auf seine Anweisung hin hatte die Kapsel sich bereits von ihrer unsichtbaren Führung gelöst und schwenkte nun dem deformierten Rumpf zu, der zu ihrer Linken die Hälfte des Himmels bedeckte.
Als die Menschen ›Mittelstation‹ seinerzeit entdeckten, war dieses Artefakt nichts anderes als ein luftleeres, gewaltiges Gewölbe im All gewesen, mit einem Durchmesser von drei Kilometern, aber dabei fast völlig leer. Die Wände waren transparent. In einem Raumanzug war damals jemand zu der Seite hinübergeschwebt, die in Richtung Opal wies, und hatte festgestellt, er falle leicht in diese Richtung; einmal kräftig von der glasartigen Außenwand abgestoßen, schwebte er quer durch das Innere des Konstruktes. Dort trieb er weiter und weiter, wurde dabei ein wenig langsamer, bis die gegenüberliegende Außenwand ihn schließlich aufhielt. Die Station markierte exakt den Schwerpunkt des gekoppelten Systems von Opal und Erdstoß.
Wozu die Baumeister ›Mittelstation‹ genutzt hatten, wusste niemand. Das jedoch war den meisten Menschen egal. Sie hatten die offene Sphäre mit einer Reihe miteinander verbundener Druckkammern ausgestattet, sie in ein vorübergehendes Habitat und Lager verwandelt, in dem alles Erforderliche aufbewahrt wurde, von Thermostiefeln bis hin zu gefriergetrockneten Lebensmitteln. Vermutlich als Reaktion auf einen uralten Instinkt, was den Bau von Höhlen betraf, hatte man auch die Außenwände mit einem glänzenden, undurchsichtigen Monomolekularfilm überzogen. Nach viertausend Jahren der Expansion fühlten sich die Menschen immer noch unwohl, wenn sie unmittelbar mit der offenen, weiten Endlosigkeit des Alls konfrontiert waren.
Die Kapsel durchquerte die erste Luftschleuse, dann kroch sie, fast wie ein Maulwurf, durch einen dunklen Korridor, der gerade breit genug war, sie hindurchzulassen. Zwei Minuten später erreichte sie eine zylinderförmige Kammer, die mit aufgereihten Instrumenten und Steuerpulten regelrecht überfüllt war.
Einige Minuten wartete Perry, während derer der Außen- und der Innendruck angeglichen wurden, dann öffnete er die Luke der Kapsel und schwebte hinaus. Als die anderem ihm schließlich gefolgt waren, hatte er sich bereits an einem der Instrumente zu schaffen gemacht.
»Hier.« Er deutete auf den Bildschirm. »Das ist ja doch recht simpel. Zeitgleich mit uns hat eine weitere Kapsel ›Nabelschnur‹ genutzt.«
»Wo denn?« Rebka starrte den Bildschirm an. Darauf waren Kameras und Monitore dargestellt, die über die gesamte Länge von ›Nabelschnur‹ verteilt waren. Doch er sah nicht das Geringste.
»Nein, sehen können Sie die nicht.« Perry hatte bemerkt, wohin Rebka geschaut hatte. »Die zusätzliche Leistungsaufnahme hat jetzt aufgehört. Das bedeutet, dass die andere Kapsel nicht mehr an ›Nabelschnur‹ gekoppelt ist.«
»Und wo ist sie dann?«, fragte Graves nach.
Perry zuckte mit den Schultern. »Das werden wir schon noch herausfinden. Ich hoffe, dass irgendjemand da unten Dienst tut. Ich sende ein Notsignal aus.« Er war bereits auf dem Weg zu einem Kommunikator, gab Zugangscodes ein.
Innerhalb von zwanzig Sekunden erschien das Gesicht von Birdie Kelly auf dem Bildschirm. Er atmete schwer, und sein Haar war zerzaust. »Max? Commander Perry? Was ist los?«
»Vielleicht kannst du uns das ja sagen. Schau dir mal den Energieverbrauch der letzten paar Stunden an! Da waren zwei Kapseln in Gebrauch.«
»Ja, das ist richtig. Kein Problem! Wir haben uns das genau angesehen, und wir haben noch reichlich Reserve übrig.«
»Vielleicht. Aber es gibt doch ein Problem: Diese andere Kapsel hat keine Genehmigung.«
Birdies Miene verriet seine Verwirrung. »Aber sicher doch! Die Frau hatte die Genehmigung doch von dir bekommen. Von dir höchstpersönlich sogar. Warte mal einen Moment!«
Einige Augenblicke war er vom Bildschirm verschwunden, und als er dann wieder zu sehen war, hielt er ein Schriftstück in der Hand, auf der deutlich ein Symbol zu erkennen war. »Das hier ist doch dein Dienstsiegel — siehst du? — genau hier!«
»Du hast ihr eine Kapsel gegeben?«
»Natürlich habe ich das!« Birdies Tonfall, zuerst offensichtlich defensiv, klang jetzt deutlich verärgert. »Sie hatte die Genehmigung, und sie muss auch die genauen Befehlscodes gekannt haben. Wenn nicht, wären die doch niemals genau einen Meter über den Meeresspiegel aufgestiegen.«
»Die?«
»Klar. Wir sind davon ausgegangen, dass du über alles Bescheid wüsstest.« Birdie Kelly warf einen Blick auf das Schriftstück, das er immer noch in der Hand hielt. »Darya Lang. Zusammen mit zwei Nichtmenschen. Eine Cecropianerin und einer Lebensform, die ich gar nicht kenne. Was geht denn da oben vor?«
»Diese Genehmigung ist ein Fake, Birdie! Mein Dienstsiegel ist gefälscht.« Perry blickte zu einer anderen Instrumententafel hinüber. »Wir sehen hier, dass die sich nicht mehr an ›Nabelschnur‹ befinden.«
»Richtig. Die werden jetzt schon auf Erdstoß sein. Ich hoffe, es geht denen da oben besser als uns hier unten.« Die Wand hinter Kelly erzitterte und neigte sich deutlich zur Seite, und ein kreischender Windstoß war über den Link zu hören. Einen Sekundenbruchteil lang wandte Kelly den Blick von seinem Bildschirm ab. »Commander, wenn es sonst nichts gibt, muss ich jetzt sofort los!«
»Noch ein Sturm?«
»Der schlimmste bisher. Gerade eben ist ein Funkspruch über das Schlingennetz eingegangen, keine fünf Minuten her. ›Spinnenaffe‹ bricht gerade auseinander! Wir haben schon einen Flugtransporter ausgeschickt, aber die haben Schwierigkeiten, auf der Schlinge zu landen, um die Leute zu evakuieren.«
»Dann hilf da mit! Wir machen uns auf den Weg. Viel Glück, Birdie!«
»Danke. Glück werden wir auch brauchen! Euch auch viel Glück!«
Und Birdie Kelly war fort.
Und Perry war nicht weniger schnell. Als Rebka und Graves ihn schließlich eingeholt hatten, war er schon damit beschäftigt, die Kapsel wieder zu versiegeln.