»Neun Stunden Vorsprung!«, wetterte er. »So kurz vor dem Gezeitensturm reicht das aus, um uns alle umzubringen.«
Er gab eine letzte Steuersequenz ein, dann setzte sich die Kapsel in Bewegung, wieder den engen Korridor entlang.
Hans Rebka lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte geradeaus, wartete darauf, einen ersten Blick auf Erdstoß werfen zu können, sobald sie ›Mittelstation‹ verlassen hätten.
Er war angespannt, dabei aber sonderbar zufrieden. Sein Instinkt hatte ihn nicht im Stich gelassen. Dieser Schlag, auf den er gewartet hatte, seit Max Perry den anderen mitgeteilt habe, der Zugang zu Erdstoß sei vorerst untersagt, war endlich gekommen.
Oder zumindest war ein Schlag gekommen.
Dieses Gefühl, irgendwelche bedeutenden Enthüllungen stünden unmittelbar bevor, hatte sich immer noch nicht ganz gelegt. Seine innere Stimme, die er schon von so vielen Gelegenheiten kannte, versicherte ihm, dass noch mehr kommen würde.
ARTEFAKT: PHAGE.
UKA-Nr.: 1067
Galaktische Koordinaten: entfällt
Name: Phage
Sternen-/Planetenassoziation: entfällt
Bose-Zugangsknoten: alle
Geschätztes Alter: verschieden. 3,6 bis 8,2 Megajahre
Erforschungsgeschichte: Über die ersten Phagen wurde von menschlichen Raumerkundern während der Untersuchung von ›Leuchter‹ im Jahr 1.233 E. berichtet. Anschließend erfuhr die Menschheit, dass die Raumerkunder der Cecropianer diese Phagen bereits seit mindestens fünftausend Jahren beobachten und einen direkten Kontakt dabei gezielt vermeiden. Das erste Eintreten eines Menschen in den Schlund eines Phagen fand im Jahr 1.234 E. während des ›Mahlstrom‹-Konflikts statt (keine Überlebenden).
Phagenausweichsysteme setzten sich ab dem Jahr 2.103 E. immer weiter durch und gehören inzwischen zur Standardausrüstung für alle Erkundungsexpeditionen, bei denen es um die Baumeister geht.
Physisch-technische Eckdaten: Äußerlich scheinen alle Phagen identisch zu sein, und trotz unterschiedlicher Funktionalität ist auch eine innerliche Bauähnlichkeit zu vermuten. Kein Sensor (oder Raumerkunder) ist jemals aus dem Inneren eines Phagen zurückgekehrt.
Jeder Phage besitzt die körperliche Gestalt eines grauen, regelmäßig geformten Dodekaeders mit einer Seitenlänge von achtundvierzig Metern. Die Oberfläche weist eine geringfügige Texturierung auf, im Mittelpunkt einer jeden Fläche befindet sich ein Massendetektor. Auf jeder Fläche kann ein Schlund geöffnet werden; ein solcher Schlund kann Objekte mit einem Durchmesser von bis zu dreißig Metern verschlucken, die Länge des betreffenden Objektes kann scheinbar unendlich sein. (Im Jahr 2.238 E. führten Sawyer und S’kropa den Versuch durch, ein massives, zylindrisches Objekt aus Kieselerde mit einem Durchmesser von fünfundzwanzig Metern in einen Phagen in der Nähe des Artefakts ›Dendrit‹ einzuschleusen. Bei einer Aufnahmegeschwindigkeit von einem Kilometer pro Tag wurden vierhundertzwanzig Kilometer, die Gesamtlänge des Objektes, absorbiert. Bei besagtem Phagen wurde keinerlei Massenzuwachs beobachtet und ebenso wenig eine Veränderung anderer physikalischer Parameter.)
Phagen sind zu langsamer, eigenständiger Bewegung fähig, die durchschnittlich bei einem bis zwei Metern pro Standard-Tag liegt. Bisher wurde bei keinem Phagen eine Bewegungsgeschwindigkeit beobachtet, die im Vergleich zum lokalen Bezugssystem oberhalb von einem Meter pro Stunde lag.
Mutmaßlicher Zweck: Unbekannt. Wären nicht Phagen in unmittelbarer Nähe von mehr als dreihundert der zwölfhundert bekannten Artefakte aufgefunden worden, und das ausschließlich unter eben diesen Bedingungen, nie jedoch allein, würde jeder Bezug dieser Objekte zu den Baumeistern deutlich in Frage gestellt werden müssen. Sie unterscheiden sich in ihrer Größe und in ihrer Anzahl von allen anderen Konstrukten der Baumeister.
Es wurde bereits die Vermutung aufgestellt, diese Phagen hätten den Baumeistern als allgemeine Entsorgungsstationen gedient, da sie anscheinend in der Lage sind, jedes beliebige Material, egal von welcher Clade hergestellt, aufzunehmen und restlos zu vernichten und ebenso auch alles, was die Baumeister erschaffen haben — mit der Ausnahme der strukturellen Rümpfe und den Paraformen (d. h. dem externen Rumpf von ›Paradox‹, der Oberfläche von ›Wachposten‹ und die konzentrischen Hohlröhren von ›Mahlstrom‹).
12
Gezeitensturm minus elf
Darya Lang hatte den furchtbaren Verdacht, ihr halbes Leben vergeudet zu haben. Zu Hause, auf Wachposten-Tor, hatte sie ihrer Familie geglaubt, als diese ihr erzählt hatte, sie lebe auf dem bestmöglichen Ort im ganzen Universum. »Wachposten-Tor, nur einen halben Schritt vom Paradies entfernt«, so hieß das Sprichwort. Und mit ihren Forschungseinrichtungen und ihrem Kommunikationsnetzwerk hatte sie auch nie die Notwendigkeit gesehen, auf Reisen zu gehen.
Doch zuerst Opal, und nun Erdstoß hatten sie eines Besseren belehrt. Sie genoss diese Andersartigkeit der neu gesammelten Erfahrungen, ihren Kontakt mit einer Welt, in der alles sonderbar und aufregend war. Von dem Augenblick an, da sie aus der Kapsel hinausgeklettert und auf die trockene, staubige Oberfläche von Erdstoß getreten war, hatte sie das Gefühl, alle ihre Sinne hätten ihre Leistungsfähigkeit um den Faktor hundert gesteigert.
Zuerst merkte sie das an ihrer Nase. Die Luft von Erdstoß war von einem kräftigen Gemisch der verschiedensten Düfte geschwängert. Zweifellos auch Blumenduft, doch es waren keine dieser saftig-üppigen Extravaganzen, die ganz Wachposten-Tor stets einhüllten. Darya musste sie geradezu aufspüren — und da waren sie, keine fünf Schritte von ihr entfernt, winzige Blumen mit glockenförmigen Blüten, fliederfarben, lavendelfarben, die aus einer dichten, graugrünen Decke harten Stechginsters hervorragten. Die Pflanzen klammerten sich an die Seitenwand einer lang gestreckten, schmalen Felsspalte, zu schmal, als dass man sie ›Tal‹ hätte nennen können. Ihre winzigen Blüten verströmten einen schweren Duft, viel stärker, als man bei ihrer Größe erwartet hätte. Es war, als könnten sie gar nicht mehr erwarten, dass es von der Blüte endlich zur Befruchtung und zur Ausbildung neuer Samen käme.
Und vielleicht können die Pflanzen genau das ja wirklich nicht mehr, dachte Darya. Denn überlagert wurde dieser schwere, zu Kopf steigende Duft von einem bedrohlichen, düsteren Geschmack nach Vulkanen in der Luft: der Atem von Erdstoß, der sich immer weiter dem Gezeitensturm näherte. Darya blieb reglos stehen, atmete tief durch und wusste, dass sie sich bis an ihr Lebensende an dieses Duftgemisch würde erinnern können.
Dann musste sie niesen und gleich noch einmal. In der Luft schwebte feinster Staub, kleine die Atemwege reizende Kristallenen, die in der Nase kitzelten.
Darya hob den Blick, schaute über dieses Miniatur-Tal mit seinem Teppich aus ungeduldigen Blumen hinweg auf eine Ebene hinaus, hinüber bis zum rauchverhangenen Horizont, der vielleicht fünfzehn Kilometer entfernt war. Dort war leicht zu erkennen, wie sich dieser Staub auswirkte. Während die Oberfläche des Planeten in der Nähe dieses Tales in leuchtenden Umbra- und Ockertönen zu schimmern schien, hatte in der Ferne ein grauer Schleier die Farben verdunkelt und gedämpft, dort schien alles nur noch in matten, gedeckten Farben gemalt. Der Horizont selbst war nicht zu erkennen, doch im Osten machte Darya eine matte Linie aus Vulkankuppen aus, gezackt und fast zimtbraun — vielleicht aber spielten ihr ihre Augen auch nur einen Streich.