Mandel stand hoch am Himmel. Während Darva noch zuschaute, schien Mandel langsam Schutz hinter dem massigen Leib von Opal zu suchen. Die gleißende Sichel wurde kleiner und kleiner. Zu dieser Jahreszeit würde es nicht mehr als nur eine partielle Finsternis werden, doch das reichte schon aus, um dem einfallenden Licht einen völlig anderen Charakter zu geben. Die rötlicheren Farben von Amarant schienen in die Landschaft auszubluten. Die Oberfläche von Erdstoß verwandelte sich in eine flammenumspielte Landschaft unterirdischer Düsternis.
In diesem Augenblick hörte Darya zum ersten Mal die Stimme des Gezeitensturms. Ein tiefes Grollen füllte die Luft wie das klagende Schnarchen eines dösenden Riesen. Der Boden erzitterte. Darya spürte einen Schauer und ein angenehmes Kribbeln in ihren Fußsohlen.
»Professorin Lang«, sagte J’merlia, irgendwo hinter ihr. »Atvar H’sial erinnert Sie daran, dass wir noch einen weiten Weg werden zurücklegen müssen und uns nur noch wenig Zeit bleibt. Wenn wir also vielleicht würden weitergehen können …«
Da begriff Darya, dass sie gerade einmal ihren ersten Schritt auf die Oberfläche von Erdstoß getan hatte, und Atvar H’sial und J’merlia standen immer noch auf der Leiter der Kapsel. Als Darya nun aus dem Weg ging, schlängelte die Cecropianerin sich an ihr vorbei und blieb regungslos stehen; ihren schweren Kopf schwenkte sie von der einen Richtung in die andere. J’merlia kam zu ihr und kauerte sich unter den vorderen Teil ihres Panzers.
Darya schaute zu, wie die trompetenartigen Hörner sich bewegen, um die ganze Szenerie zu erfassen. Was ›sah‹ Atvar H’sial, wenn sie Erdstoß zuhörte? Was ›hörten‹ diese unendlich feinen Geruchsorgane, wenn jedes einzelne Duftmolekül in der Luft ihr ganze Geschichten zu berichten wusste?
Darya und Atvar H’sial hatten darüber gesprochen, wie die Welt sich ›anfühlte‹, wenn man sie nur mit Echoortung wahrnahm, aber die Erläuterungen dazu waren nicht befriedigend gewesen. Darya war nur ein Bild in den Sinn gekommen: Sie hatte sich einen Menschen vorgestellt, der auf dem Meeresgrund stand, irgendwo, wo das Wasser trübe war und wohin nur wenig Licht fiel. Dann hätte die Welt nur noch eine Farbe, und weiter als zehn Meter könnte man nicht sehen.
Doch diese Analogie war unangemessen. Atvar H’sial war gegenüber einem sehr viel größeren Frequenzbereich aufnahmefähig und sensibel, und sie konnte sogar ganz gewiss das Grollen der Vulkane in der Ferne ›sehen‹. Diese Schallsignale waren natürlich räumlich nicht so fein aufgelöst wie bei einem Sonargerät, doch sie waren ganz eindeutig eigenständige sensorische Eindrücke.
Und dann gab es noch andere Faktoren, vielleicht sogar noch andere Sinne, die Darya sich bestenfalls nur sehr vage vorstellen konnte: Im Augenblick zum Beispiel hob die Cecropianerin ein Vorderbein und deutete in die Ferne. Nahm sie einen Duft aus größerer Entfernung wahr, mit so hoch entwickelten Geruchssinnlappen, dass wirklich jede Spur eines Geruches ihr Informationen übermittelte?
»Hier gibt es tierische Lebensformen«, übersetzte J’merlia. »Und auch geflügelte Lebewesen. Das lässt vermuten, dass es noch eine andere Strategie zum Überleben des Gezeitensturms gibt, eine Strategie, die Commander Perry bisher nicht erwähnte. Wenn diese Lebensformen sich nämlich die ganze Zeit über im Mandel-Schatten von Erdstoß aufhielten, ohne dabei zu landen, wären auch sie in Sicherheit.«
Darya konnte die geflügelten Lebewesen erkennen — gerade so eben. Sie waren vielleicht einen halben Meter lang, ihre Leiber dunkel, ihre Flügel hauchdünn und durchsichtig; gewiss waren diese Flügel viel zu zart, zu fein, um die Turbulenzen des Gezeitensturms zu überstehen. Es war viel wahrscheinlicher, dass sie bereits ihre Eier gelegt hatten und nun innerhalb der nächsten Tage sterben würden. Doch mit einem hatte Atvar H’sial recht: Es gab viele Dinge über Erdstoß, die den Menschen entweder nicht bekannt waren oder die Max Perry ihnen gegenüber nicht erwähnt hatte.
Wieder ging ihr dieser Gedanke durch den Kopf: Das hier war ein ganzer Planet, eine Welt mit einem eigenen, komplizierten Gleichgewicht des Lebens, Hunderte von Millionen von Quadratkilometern Land und kleine Seen, ohne Menschen oder andere vernunftbegabte Lebewesen, und all das lag nun vor ihr, damit sie es sich würde ansehen können. Hier war eine schier unendliche Artenvielfalt möglich, doch man würde ein ganzes Leben darauf verwenden müssen, all das zu erkunden und kennen zu lernen.
Genau, warnte ihre etwas praktischer veranlagte Seite, aber wir haben kein ganzes Leben Zeit! In achtzig Stunden sollten wir lieber mit unserer Erkundung fertig und schon wieder auf dem Rückweg sein!
Während Atvar H’sial weiterhin blicklos die Landschaft begutachtete, umrundete Darya die Basis von ›Nabelschnur‹ um zu den geparkten Flugwagen zu gelangen. Acht Stück standen dort, im Schutze eines Daches, das eindeutig aus Werkstoffen der Baumeister stammte. Das Vorfeld, auf dem sie standen, war mit Silikonfaserkabeln an ›Nabelschnur‹ selbst befestigt und würde gemeinsam mit dieser während des Gezeitensturms angehoben werden.
Darya stieg in einen der Wagen und nahm die Instrumente in Augenschein. Wie Atvar H’sial schon gesagt hatte, waren diese Fahrzeuge von Menschen und für Menschen gebaut worden und völlig baugleich mit dem, das sie auch auf Opal genutzt hatte. Es war vollständig aufgeladen, und Darya konnte problemlos damit fliegen, vorausgesetzt — und bei diesem Gedanken durchfuhr ihr Schlüsselbein ein stechender Schmerz, um sie daran zu erinnern —, dass sie nicht wieder in einen Sturm hineinsteuerte wie den, der sie beim letzten Mal vom Himmel geholt hatte.
Sie hob die Hand, um den Wind besser spüren zu können. Im Augenblick war das kaum mehr als eine steife Brise, gar nicht der Rede wert. Selbst wenn man die umherwirbelnden Staubfelder berücksichtigte, konnte man mindestens drei, vielleicht sogar vier Kilometer weit blicken. Das reichte für eine sichere Landung allemal aus, und sie konnten höher fliegen als jeder Sandsturm.
Auf ihr Drängen hin kletterten Atvar H’sial und J’merlia in den Wagen und schnallten sich für den bevorstehenden Flug an. Sofort ließ Darya den Wagen aufsteigen, steuerte eine Höhe an, in der sie vor jeglichen Turbulenzen gefeit sein sollten. Zusammengekauert saß J’merlia neben ihr in der vorderen Sitzreihe des Wagens. Darya hatte ihm die Instrumente des Flugwagens erklärt, als sie auf Opal unterwegs gewesen waren, und sollte es tatsächlich erforderlich sein, würde er das Fahrzeug vermutlich ebenfalls steuern können. Doch anscheinend dachte er nicht einmal im Traum daran, das einfach zu versuchen, ohne vorher von Atvar H’sial ausdrücklich dazu aufgefordert zu werden.
Darya hatte versucht, mit ihm darüber zu sprechen, und sie war gescheitert. Sie hatte sich eingebildet, sein Verhalten ihr gegenüber würde sich nach all den vielen Gesprächen, die sie während ihrer Genesung miteinander geführt hatten, grundlegend ändern. Sie hatte sich getäuscht. Wenn Atvar H’sial anwesend war, weigerte er sich, auch nur einen einzigen unabhängigen Schritt zu tun, und während der ersten drei Stunden ihres Fluges sprach er nur, wenn Atvar H’sial ihn dazu aufforderte.
Doch während der vierten Stunde bewegte sich J’merlia plötzlich von ganz allein, ohne dass seine Meisterin ihm irgendetwas aufgetragen hätte. Plötzlich setzte er sich ganz aufrecht und deutete auf irgendetwas. »Dort. Oben.«
Unter Autopilot jagten sie auf zwanzigtausend Metern Höhe dahin, fast außerhalb der Atmosphäre von Erdstoß, weit von den Stürmen auf der Oberfläche entfernt. Darya hatte nicht nach oben geblickt. Mit Hilfe der Bildgebersensoren des Wagens hatte sie den Boden vor ihnen abgesucht. Bei maximaler Auflösung konnte sie zahlreiche Hinweise auf die Lebensformen von Erdstoß erkennen. Auf den mit kleinen Seen übersäten Hügelketten gab es gewaltige Herden weißer Tiere, die sich so gleichmäßig und so unaufhaltsam wie ein Meer bei Ebbe aus den höheren Lagen in Richtung Meeresspiegel zurückzogen. Darya beobachtete, wie die gewaltigen Herden sich teilten, wenn sie Bergkämme oder massige Felsbrocken erreichten. Einige Kilometer weiter endete die Hügellandschaft, und nun sah sie gewundene, dunkelgrüne Linien, die sich an feuchten Kieselbetten von Flüssen und Bächen entlangzogen — was sie zugleich für Darya viel leichter erkennbar machte. Die ausgetrockneten Flussbetten endeten in Bereichen überdichter Vegetation, von oben undurchdringlich; sie überzogen Bodensenken unbekannter Tiefe.