Auf J’merlias Worte hin hob Darya den Kopf, und er beugte sich über ihre Schulter und deutete mit einem dünnen, mehrgliedrigen Arm zum blauschwarzen Himmel hinauf, an dem die Sterne funkelten.
Atvar H’sial stieß ein Zischen aus. »Ein weiterer Flugwagen«, übersetzte J’merlia. »Man hat uns entlang ›Nabelschnur‹ verfolgt, und das sehr viel rascher, als wir erwartet hatten!«
Der Lichtpunkt tanzte unmittelbar über ihnen, hielt ihren Kurs, blieb dabei jedoch noch deutlich höher. Gleichzeitig entfernte es sich immer weiter von ihnen. Darya ließ den Autopiloten den vorgegebenen Kurs beibehalten, während sie den hochauflösenden Sensor herumschwenkte, um die Neuankömmlinge etwas genauer begutachten zu können.
»Nein«, widersprach sie ihrer Begleiterin nach einigen Augenblicken, »das ist kein Flugwagen.« Sie aktivierte den kleinen Bordcomputer und ließ sich eine Flugbahn berechnen. »Was immer das ist, ist zu hoch für einen Flugwagen, und es bewegt sich auch viel zu schnell. Und schau doch maclass="underline" Es wird heller! Das sind nicht die Positionslichter eines Flugwagens.«
»Und was ist es dann?«
»Das ist ein Raumschiff. Und dieses helle Gleißen da bedeutet, dass es in die Atmosphäre von Erdstoß eintritt.« Darya betrachtete die Daten, die der Computer auf dem Bildschirm hatte erscheinen lassen — sie lieferten eine erste Abschätzung des Landekurses, den das andere Schiff vermutlich gesetzt hatte. »Wir sollten lieber erst einmal runtergehen und darüber nachdenken, was wir als Nächstes tun sollen.«
»Nein.« Atvar H’sials Gedanke wurde von J’merlia in ein protestierendes Flüstern übertragen.
»Ich weiß; ich will das auch nicht!«, meinte Darya. »Aber wir müssen, es sei denn, Sie wissen irgendetwas, was ich noch nicht weiß. Der Computer braucht ein paar weitere Ortungsdaten, um sich ganz sicher sein zu können; aber eine erste Schätzung haben wir bereits vorliegen. Dieses Schiff befindet sich im Landeanflug. Ich weiß nicht, wer sich dort an Bord befindet, aber das Schiff wird an einem Ort herunterkommen, wo wir es so gar nicht gebrauchen können — nur ein paar Kilometer von unserem eigenen Ziel entfernt!«
Zwielicht über Erdstoß — wenn ein so plötzliches, drohendes Anbrechen der Nacht, rot wie das Blut eines Drachen, eine derartige Beschreibung überhaupt gestattete.
In drei Stunden würde Mandel wieder aufgehen. Amarant lag tief am Horizont, sein roter Schimmer war von Staubwolken fast zur Gänze verdeckt. Allein Gargantua stand erkennbar riesig und in aller Pracht am Himmel, eine gestreifte Murmel, orange und lachsfarben.
Der Flugwagen war auf einem Kiesbett gelandet, jederzeit für einen schnellen Start bereit. Darya Lang hatte ihn zwischen zwei kleinen Seen niedergehen lassen, in einem Gebiet, das laut Karte von kleinen Süßwasserseen und Tümpeln regelrecht übersät war.
Zumindest in einer Hinsicht hatte die Karte gelogen. Atvar H’sial, die an einem dieser Tümpel in die Hocke gegangen war, hatte lautstark Wasser durch ihren Saugrüssel gesogen. J’merlia hatte erklärt, das Wasser sei trinkbar. Doch als Darya das Wasser genau dieses Tümpels probiert hatte, spie sie es sofort angewidert aus und fragte sich erneut, wie der Metabolismus eines Cecropianers genau aussehen mochte. Das Wasser dieses Tümpels roch stechend und schmeckte bitter, als seien darin viele basische Mineralien gelöst. Darya konnte das unmöglich trinken, also würde sie sich auf die Vorräte an Bord des Flugwagens beschränken müssen.
Langsam ging Darya zurück, am Wagen vorbei, und bereitete sich darauf vor, hier die Nacht zu verbringen.
Selbst mit Hilfe des Autopiloten war der Flug einmal um halb Erdstoß herum anstrengend gewesen. Auch wenn der Planet unter ihr völlig harmlos gewirkt hatte, und das die ganze Zeit über, hatte sie es doch nicht gewagt, in ihrer Konzentration auch nur einen Augenblick nachzulassen, und nun, da sie sich wirklich hätte entspannen können, schaffte sie es einfach nicht.
Es gab zu viel zu sehen, zu viel zu spekulieren.
Laut den Aussagen von Perry hätte Erdstoß so unmittelbar vor dem Gezeitensturm die Verkörperung aller Höllenvorstellungen sein müssen. Die Planetenkruste hätte sich aufwerfen und bersten müssen, an der Oberfläche müssten zahllose Waldbrände und Buschfeuer tosen, Pflanzen hätten verwelken und absterben müssen in sengend heißer Luft, die so unerträglich war, dass man sie fast nicht mehr hätte atmen können. Die Tiere hätten schon längst fort sein sollen, entweder bereits tot oder aber im Sommerschlaf unter der Oberfläche des Planeten.
Stattdessen konnte sie, Darya Lang, hier atmen und spazieren gehen und sich durchaus wohlfühlen, und rings um sie befanden sich überreichlich Hinweise prächtig gedeihender Fauna und Flora. Darya hatte ihr Feldbett im Freien aufgestellt, ganz in der Nähe eines der Tümpel im Schatten eines dichten Schachtelhalmgestrüpps. Sie hörte, dass dort Tiere entlanghuschten, doch diese ignorierten die Besucherin des Planeten einfach, und am Ufer war der Boden mit zahllosen Löchern in den verschiedensten Größen übersät; anscheinend gruben sich hier alle möglichen Tierarten ein. Wann immer das Grollen des Donners oder der ausbrechenden Vulkane in der Ferne für kurze Zeit verklang, konnte sie hören, wie diese Tiere sich abmühten, sich immer tiefer in das immer trockener werdender Erdreich zu graben.
Doch warm war es, das wollte Darya Perry gegenüber gerne zugeben. Dass Mandel nicht mehr am Himmel stand, hatte kaum Abkühlung gebracht. Der Schweiß hatte auf ihrem Overall bereits Flecken hinterlassen und lief ihr den Nacken hinunter.
Darya legte sich auf ihr Feldbett. Auch wenn Erdstoß sicher genug zu sein schien, machte sie sich doch Sorgen darüber, was sie nun als Nächstes unternehmen sollte. Das Raumschiff musste von Opal gekommen sein, wahrscheinlich ausgeschickt, um sie wieder zurückzuholen. Wenn sie jetzt weiterflogen, würde man sie vielleicht einfangen und dazu zwingen, Erdstoß wieder zu verlassen. Doch wenn sie blieben, wo sie waren, würden sie ihr Ziel nicht erreichen.
Während Darya noch darüber nachdachte, überraschte Atvar H’sial sie damit, dass sie zu ihr kam und sie einlud, ihre Mahlzeit, Früchte von Opal und Wasser aus der Flasche, mit ihr zu teilen. Darya nahm beides entgegen und nickte ihr dankend zu. Nicht zu fassen: eine Geste, die Gemeinsamkeit zwischen ihnen herstellen sollte! Die Cecropianerin erwiderte das Nicken, dann zog sie sich in das Innere des Flugwagens zurück.
Während Darya aß, dachte sie über ihre beiden Gefährten nach. Sie hatte noch keinen von den beiden jemals essen sehen. Vielleicht hielten sie es wie die Bewohner mancher Welten der Allianz: Man aß nur für sich allein. Oder sie waren wie die Schildkröten auf Opal, die, das hatten zumindest die Besatzungsmitglieder am Sternenseiten-Raumhafen gesagt, ein ganzes Jahr wunderbar nur mit Wasser auskamen. Aber warum sollte Atvar H’sial dann daran denken, der Menschenfrau Nahrung zukommen zu lassen, nur weil diese Menschenfrau zu ihrer Gruppe gehörte?
Darya streckte sich auf ihrem Feldbett aus, zog sich die wasserdichte Decke bis zum Kinn hinauf und schaute zu, wie der Himmel über ihr umherwirbelte. Die Sterne bewegten sich so schnell … auf Wachposten-Tor mit seinem Achtunddreißig-Stunden-Tag war die Drehung des Sternenhimmels fast unmerklich. In welcher Richtung im All lag ihre Heimatwelt eigentlich? Die unvertrauten Sternbilder verwirrten sie. In der Richtung … oder der … ihr Denken trieb in Richtung der Sterne. Fast gewaltsam zwang sie sich dazu, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie musste noch eine Entscheidung fällen.