Erforschungsgeschichte: Es ist nicht bekannt, wie oft ›Paradox‹ entdeckt wurde und anschließend jegliches Wissen darüber verloren ging. Bekannt hingegen ist, dass im Jahr 1.379 E. Ruttledge, Kaminski, Parzen und Lu-Ian zu einer Zweischiff-Expedition aufbrachen, um die Lichtbrechungsanomalie zu untersuchen, die inzwischen als ›Paradox‹ bekannt ist.
Ruttledge und Kaminski, die als Erste eintrafen, verzeichneten in ihrem Bordcomputer die Absicht, mit Hilfe ihrer Erkundungspinasse die ›Paradox‹-Sphäre zu betreten, während das Mutterschiff in sicherer Distanz bliebe. Fünf Tage später trafen Parzen und Lu-Ian ein und entdeckten das andere Schiff und die Pinasse, beide voll betriebsbereit. Ruttledge und Kaminski befanden sich an Bord der Pinasse, sie lebten zwar, waren aber dehydriert und mangelernähert. Sie waren weder in der Lage zu sprechen noch die einfachste Motorik einzusetzen, und nachfolgende Untersuchungen zeigten, dass sie über ebenso wenig Erinnerungen verfügten wie Neugeborene. Die Datenbanken und die Speicher der Pinasse waren vollständig gelöscht.
Nach einer Untersuchung der Datensätze des anderen Schiffes losten Parzen und Lu-Ian aus, wer als Nächster die ›Paradox‹-Sphäre betreten sollte. Diese Aufgabe fiel Lu-Ian zu, und er führte sie auch aus. Parzen empfing keinerlei Signale mehr von ihm, auch wenn zuvor ausgemacht worden war, im Abstand von vier Stunden solle Lu-Ian sich melden. Nach drei Tagen kehrte Lu-Ian, körperlich unversehrt, zurück. In seinen Erinnerungen befand sich keine Spur sämtlichen erlernten Wissens mehr, sein somatisches (instinktives) Wissen hingegen war vollständig unverändert.
Im Jahr 1557E. wurde ›Paradox‹ anschließend zur Sperrzone erklärt, die nur von speziell ausgebildeten Forschern betreten werden durfte.
Physisch-technische Eckdaten: ›Paradox‹ stellt ein sphärisches Objekt mit einem Durchmesser von fünfzig Kilometern dar. Die Oberfläche zeigt permanente Farbverschiebungen, wie dies von Seifenblasen bekannt ist; anscheinend werden verschiedene Wellenlängen nach reinem Zufallsprinzip reflektiert oder hindurchgelassen.
Für bestimmte Ausschnitte des Spektrums (Wellenlängen 1,2-223 Meter) ist die Sphäre opak, für andere (5,6-366 Mikrometer) vollständig transparent. Über das Erscheinungsbild des Inneren von ›Paradox‹ ist nichts bekannt.
Größe und Erscheinungsbild des Äußeren von ›Paradox‹ ist nicht invariant. Über Farb- und Größenveränderungen wurde bisher neun Mal berichtet.
Physikalische Eigenschaften: Ausgehend von einzelnen Transmissionen, scheint ›Paradox‹ über eine komplexe innere Struktur zu verfügen. Allerdings wurden bisher aus erster Hand keinerlei Beobachtungsdaten gesammelt, eine Folge der sämtliche Informationen zerstörenden Natur von ›Paradox‹. Die meisten Experten sind der Ansicht, bei ›Paradox‹ handle es sich um die vierdimensionale Extrusion eines sehr viel höher dimensionalen Objektes, vielleicht der Zwanzig/Drei/Sieben-geknotete Mannigfaltigkeit von Ikro und H’miran.
Mutmaßlicher Zweck: Unbekannt. Allerdings hat Scorpesi die Vermutung angestellt, dass ›Paradox‹ eine Art ›Reinigungsbad‹ für große Artefakte der Baumeister darstellt wie etwa Elefant (vgl. Eintrag 859), um sie wiederverwenden zu können. Dabei ist jedoch zu beachten, dass dieser Vorschlag im Widerspruch zur physischen Dimension von Elefant selbst steht (4.000x900 Kilometer), es sei denn, derartige Objekte würden mehrmals durch die Sphäre von ›Paradox‹ befördert.
2
Gezeitensturm minus sechsunddreißig
Die zweite Schicht dieses Arbeitstages hatte gerade erst begonnen, und schon jetzt war Birdie Kelly klar, dass diese Schicht ganz mies werden würde. Der neue Fachbereichsleiter mochte noch eine halbe Welt entfernt sein, sich immer noch auf der Sternenseite aufhalten, doch schon jetzt machte der Boss sich Gedanken über dessen unmittelbar bevorstehende Ankunft.
»Wie kann jemand, der dieses System bisher noch nicht einmal besucht hat, die Fachkompetenz besitzen, den Verkehr zwischen Opal und Erdstoß zu überwachen?« Max Perry blickte Birdie aus blassen, unglücklichen Augen an. Birdie erwiderte den Blick, sah das vorspringende Kinn des Mannes — eindeutig Mangelernährung! — und dachte kurz daran, wie gut es ihrem Gegenüber wohl tun würde, einfach mal eine anständige Mahlzeit zu sich zu nehmen und einen oder zwei Tage lang ein wenig auszuspannen.
»Der Verkehr von Erdstoß ist unser Job!«, fuhr Perry fort. »Wir machen das jetzt seit sechs Jahren. Wie viel weiß denn dieser Rebka überhaupt darüber — ein absolut Fremder hier? Gar nichts! Denken die im Hauptquartier des Kreises denn, da sei doch gar nichts dabei, und jeder Vollidiot wäre in der Lage, mit Erdstoß zurechtzukommen?! Wir wissen, warum es so wichtig ist, den Zugang zu Erdstoß zu untersagen. Vor allem jetzt, wo der Gezeitensturm unmittelbar bevorsteht. Aber wissen die das etwa?«
Birdie hörte sich Max Perrys schier endlosen Strom aus Klagen an und nickte mitfühlend. Eines war schon einmal sicher: Perry war ein guter Mann und ein gewissenhafter Boss, aber eine gewisse Besessenheit war ihm nicht abzusprechen. Und dieser Captain Hans Rebka, wer auch immer das sein mochte, würde Birdie das Leben eindeutig noch schwerer machen.
Birdie seufzte und lehnte sich in seinem Korbsessel zurück. Perrys Büro befand sich in der obersten Etage des höchsten Gebäudes auf der Erdstoßseite von Opal, einem Versuchs-Gebäude mit vier Stockwerken, das genau gemäß den Konstruktionsplänen errichtet worden war, die Perry vorgelegt hatte. Und Birdie Kelly fühlte sich darin immer noch nicht so recht wohl. Das Fundament erstreckte sich durch mehrere Schlammschichten und ein Geflecht aus Wurzeln, zum Teil abgestorben, zum Teil nicht, sodann noch durch die Unterseite des Fundamentes dieser Schlinge hindurch bis in das brackige Wasser des Ozeans von Opal. Es wurde von einem Hohlkörper aufrecht gehalten, der knapp unter der Oberfläche trieb, und dessen hydrostatischer Auftrieb übernahm einen Großteil der Last.
Doch selbst ein derart niedriges Gebäude erschien Birdie nicht sicher. Die Schlingen waren schließlich sehr fragiclass="underline" Waren keine soliden Fundamente vorhanden, beschränkte man sich bei den meisten Gebäuden von Opal auf nur ein oder zwei Stockwerke. In den letzten sechs Monaten war diese Schlinge an ein und der selben Stelle vertäut gewesen, doch nun, da der Gezeitensturm bevorstand, wurde das zu gefährlich. Perry hatte angeordnet, die Schlinge in acht Tagen ganz den Gezeiten auszuliefern — aber war das frühzeitig genug?
Der Kommunikator meldete sich. Max Perry ignorierte ihn. Er hatte sich in seinem Liegesitz zurückgelehnt und starrte die Decke an. Birdie rieb über das Revers seines fadenscheinigen weißen Jacketts, dann beugte er sich ein wenig vor und warf einen Blick auf das schlichte Display.
Er schniefte. Das war keine Nachricht, die Max Perrys Stimmung aufheitern würde.
»Captain Rebka ist näher, als wir dachten, Sir«, sagte er. »Tatsächlich ist er schon vor Stunden von der Sternenseite aufgebrochen. Sein Flugwagen sollte in wenigen Minuten landen.«
»Danke, Birdie.« Perry rührte sich nicht. »Bitten Sie den Schlingenfunk, uns auf dem Laufenden zu halten!«
»Mach ich, Commander.« Kelly wusste, dass man ihn gerade zu gehen aufgefordert hatte, doch er ignorierte das. »Bevor Captain Rebka hier eintrifft, sollten Sie sich das hier ansehen, Sir. So bald wie möglich.«
Kelly legte einen Aktenordner auf den Tisch aus geflochtenem Schilf, der zwischen ihnen stand, setzte sich wieder und wartete. In seiner aktuellen Stimmung durfte man Max Perry nicht hetzen.