»Der ist wahnsinnig.«
»Das ist wahr. Und er kann in mir und in Ihnen lesen wie in einem Buch — selbst ohne Erweiterungen versteht er genau, was ich denke. Er ist zu gefährlich. Ich möchte, dass er aus dem Weg geräumt wird. Ich möchte, dass alle drei aus dem Weg geräumt werden!«
»Verstanden. Aber ich kann die auf Erdstoß ebenso wenig finden wie Sie. Was also schlagen Sie vor?«
»Sie werden Erdstoß vor dem Gezeitensturm verlassen. Entkommen werden sie mit Hilfe von ›Nabelschnur‹. Das wäre auch meine Wahl gewesen, diesen Planeten wieder zu verlassen, bis ich Ihr Schiff habe eintreffen sehen und begriff, dass es auch auf Raumfahrt ausgelegt ist.«
»Bis zum Ende der Galaxis, wenn ich das möchte. Ich verstehe, dass das für Sie sehr nützlich sein könnte: Sie könnten Erdstoß verlassen, ohne das Risiko eingehen zu müssen, irgendwo auf Graves zu stoßen. Aber was haben Sie mir anzubieten? Ohne grob erscheinen zu wollen: Ich bin doch nicht Ihre gute Fee! Warum soll ausgerechnet ich Ihnen die Chance verschaffen, Erdstoß problemlos und wann’s Ihnen passt verlassen zu können? Ich hab mit Rallik abgemacht, wir würden uns genauestens auf der Oberfläche des Planeten umsehen, genau an der Stelle, die sie bezeichnet hat; aber wenn der Gezeitensturm-Zauber losgeht, werden wir uns das Schauspiel vom Orbit aus ansehen! Aber das gilt für mich und Kallik. Ich betreibe doch kein Taxiunternehmen! Also: Warum sollte ich Ihnen helfen?«
»Weil ich die Steuercodes von ›Nabelschnur‹ kenne. Sämtliche Steuercodes.«
»Aber warum sollte mich interessieren …« Langsam hob Louis Nenda den Kopf, blickte zu der Cecropianerin hinauf, und im gleichen Augenblick senkte sie ihren augenlosen Kopf.
»Sie haben verstanden?« Die Pheromone fügten dem noch eine weitere Botschaft hinzu — stärker und doch deutlich subtiler als jedes Wort: Freude, Triumph, Tod.
»Durchaus. Das ist ja nun mehr als deutlich. Aber was ist mit denen?« Nenda deutete zum Fenster. J’merlia und Kallik hatten sich auf den heißen Boden gekauert, versuchten hinter dem Raumschiff Schutz vor der sengenden Sommersonne von Mandel zu finden. Beide zitterten, und J’merlia schien zu versuchen, den Hymenopter zu beruhigen. »Ich bin bereit, auf Ihren Vorschlag einzugehen, aber ich werde die keinesfalls mitschleppen, um ein paar Zeugen dabei zu haben.«
»Einverstanden. Und wir brauchen sie auch nicht. Alles, was J’merlias Sensitivität gegenüber Strahlung im Wellenlängenbereich eines halben Mikrometers betrifft, vermögen Sie ebenso zu leisten.«
»Ich kann sehen, falls Sie das meinen.« Nenda stand bereits an der Luke und rief Kallik zu sich. »Hören Sie, ich bin nicht bereit, die hier beim Schiff zu lassen. Ich bin nicht einmal bereit, das Schiff hier zu lassen. Wir fliegen also zu ›Nabelschnur‹ hinüber. Und lassen J’merlia und Kallik hier. Sie sollen hier auf uns warten.«
»Mein Vorschlag sieht ein wenig anders aus.« Atvar H’sial streckte ihre Hinterbeine jetzt zur Gänze und überragte Louis Nenda nun in durchaus bedrohlichem Maße. »Wir wollen ja schließlich auch nicht, dass sie den Flugwagen benutzen.«
»Kallik wird den nicht anrühren, wenn ich ihr das verbiete.« Nenda wartete, während die Cecropianerin ihn anstarrte. Selbst die leisen Obertöne ihrer Pheromonausschüttung waren verklungen. »Na gut! Von mir aus also: Wir lassen sie nicht hier! Kein Risiko ist besser als ein kleines Risiko — und ich weiß nicht genau, was von Ihrem Lo’tfianer zu halten ist. Wie wollen Sie vorgehen?«
»Sehr einfach. Wir werden ihnen ein Funkfeuer und einige Vorräte geben und sie dann an einem angemessenen Ort zwischen diesem Landeplatz hier und ›Nabelschnur‹ aussetzen. Wenn wir unsere Angelegenheiten erledigt haben, steuern wir das Funkfeuer an, holen sie an Bord, schauen uns den Ort an, an dem das Erwachen stattfinden wird — und brechen dann in den Orbit auf, bevor es auf der Oberfläche zu gefährlich wird.«
»Angenommen, die Bedingungen auf der Oberfläche verschlechtern sich, wo genau sollen wir die beiden dann lassen? Perry schwört ja Stein und Bein, dass es richtig heftig hier unten wird, und ich glaube nicht, dass er uns bewusst angelogen hat.«
»Wenn die Bedingungen sich zu rapide verschlechtern, dann wäre das wirklich bedauerlich.« Atvar H’sial stand da, den Kopf zur Seite gedreht, während J’merlia und Kallik vor der offene Luke warteten. Beide Sklaven zitterten vor Furcht und Anspannung. »Aber Sie werden problemlos einen neuen Hymenopter finden. Und auch wenn J’merlia seine Dienste mir gegenüber stets in befriedigendem Maße erledigt hat — sogar in mehr als befriedigendem Maße: Ich würde es sehr bedauern, auf seine Dienste verzichten zu müssen —, aber sollte das der Preis sein, den wir zu zahlen haben — der Preis … für einen größeren Erfolg … nun ja …«
15
Gezeitensturm minus acht
Darya Lang tat das, was in dieser Lage das Natürlichste der Welt war: Sie setzte sich auf den Boden und heulte. Doch wie Nennonkel Matra immer gesagt hatte, schon vor langer, langer Zeit: Weinen löst auch keine Probleme. Nach einigen Minuten hörte sie damit auf.
Zuerst war sie nur verwirrt gewesen. Warum sollte Atvar H’sial sich die Mühe machen, sie zu betäuben und dann mitten im Nirgendwo auszusetzen, in einer Gegend von Erdstoß, die sie nur ausgewählt hatten, weil sie wie ein guter Landeplatz gewirkt hatte? Ihr wollte absolut keine Erklärung dafür einfallen, warum die Cecropianerin verschwunden war, während ihre menschliche Reisegefährtin geschlafen hatte.
Darya war Tausende von Kilometern von ›Nabelschnur‹ entfernt. Sie hatte nur eine sehr grobe Vorstellung davon, in welcher Richtung das Artefakt überhaupt lag. Sie hatte keine andere Möglichkeit der Fortbewegung, konnte nur zu Fuß gehen. Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung war schlicht: Atvar H’sial hatte die Absicht, sie auf Erdstoß auszusetzen, damit sie, Darya Lang, den Tod fände, wenn der Gezeitensturm richtig einsetzte.
Aber warum sollte die Cecropianerin ihr dann noch Proviant dalassen? Warum eine Maske mit einem Atemfilter und einen einfachen, geradezu primitiven Wasseraufbereiter? Und das Verwirrendste von allem: warum sollte Atvar H’sial der zurückgelassenen Reisegefährtin einen Signalgenerator dalassen, mit dem sie einen Notruf würde absetzen können?
Kaum hatte die Verwirrung nachgelassen, fühlte sich Darya jämmerlich, dann war sie wütend geworden, einfach nur wütend. Eine solche Abfolge von Emotionen zu durchleben, hätte sie sich niemals zugetraut, damals, in jenen ruhigen Tagen, bevor sie Wachposten-Tor verlassen hatte. Sie hatte sich selbst immer für eine sehr vernunftorientierte Person gehalten, eine Wissenschaftlerin, Bürgerin eines geordneten und logischen Universums. Wut war keine vernunftorientierte Reaktion, Wut behinderte den Denkprozess. Doch Danas Welt hatte sich verändert, und sie war gezwungen, sich gemeinsam mit dieser ihrer Welt zu verändern. Die Intensität der Gefühle, von denen sie sich plötzlich übermannt fühlte, versetzte sie in Erstaunen. Wenn sie wirklich würde sterben müssen, dann nicht, ohne zu kämpfen!
Sie kauerte sich neben dem nächstgelegenen Tümpel auf den weichen Boden und begutachtete systematisch sämtliche Gegenstände, die sie noch zur Verfügung hatte — einen nach dem anderen. Beim Wasseraufbereiter handelte es sich um eine kleine Blitzverdampfungseinheit, mit der man selbst noch aus den bittersten Alkalilaugen der schlimmsten dieser Tümpel in kürzester Zeit sauberes, trinkbares Wasser gewinnen konnte. Das Maximum dessen, was eine derartige Einheit pro Tag würde reinigen können, lag bei etwas mehr als einem Liter. Die Lebensmittelpäckchen, die sie noch hatte, waren einfach und geschmacksneutral, aber sie waren selbsterhitzend, nahrhaft und in ausreichend großer Zahl vorhanden — das sollte für Wochen reichen. Der Signalgenerator war, soweit sie das beurteilen konnte, völlig funktionstüchtig. Und die wasserdichte, wattierte Decke, unter der alles lag, würde vor Hitze, Kälte und Regen schützen.