Vorsichtig trat Darya an den Wasserfall heran, presste sich, so eng sie konnte, gegen die Felswand, und machte die ersten Schritte ganz langsam seitwärts in den Wasserfall hinein. Es reichte ihr, diese ersten Schritte erfolgreich hinter sich gebracht zu haben: Sie wusste augenblicklich, dass sie es schaffen konnte, ganz hindurchzukommen. Der weitaus größte Teil des Wassers erwischte sie gar nicht; dank des Felsvorsprungs stürzte er ein Stück weit vor ihr herab, und nur das Tosen und einzelne Wassertropfen erreichten die hinter dem Wasserfall gelegene Felswand. Und genau wie sie gedacht hatte, befand sich dahinter ein größerer Hohlraum.
Das Problem war: Der Vorsprung und der Hohlraum waren nicht groß genug für sie. Sie würde zwar sitzen können, hocken, aber nicht aufstehen, ohne den Kopf in den Wasserfall hineinhalten zu müssen. Sie konnte sich auch nicht ausgestreckt hinlegen. Der Felsboden war zu uneben. Und es gab keinen einzigen Quadratzentimeter, nicht an den Wänden, nicht am Boden, der nicht beständig von Spritzwasser getroffen wurde.
Kurz packte sie Entsetzen, Verzweiflung, doch dann riss sie sich zusammen. Was hatte sie denn erwartet: ein Luxus-Apartment wie in der Allianz? Hier ging es nicht um Bequemlichkeit, hier ging es ums Überleben!
Im Schutze der Decke sollte sie sich zusammengerollt hier aufhalten können, den Rücken gegen die Felswand gepresst. Ein Großteil ihrer Lebensmittel und ihres Getränkevorrats ließ sich gewiss außerhalb verstauen, und wann immer es notwendig werden sollte, konnte sie die Höhle lange genug verlassen, um Lebensmittel zu holen oder sich die Beine zu vertreten. Sie konnte die Maske und den Atemfilter auswaschen, wenn sie sich im Inneren der Höhle befand, um den Staub zu entfernen. Und hier hätte sie es warm genug, selbst wenn sie nie ganz trocken sein würde oder sich wirklich würde ausruhen können. Aber sollte es notwendig sein, konnte sie hier mehrere Tage überleben.
Dreimal ging sie zurück, um alle ihre Vorräte zu holen. Bei den ersten beiden Gängen trug sie alles, was sie hatte, vom Funkfeuer abgesehen, bis zum Wasserfall, und überlegte dann lange Zeit, was sie mit hinein würde nehmen wollen und was besser draußen blieb.
Beim dritten Gang musste sie die schwierigste aller Entscheidungen fällen.
Sie trug den Signalgenerator des Funkfeuers zu einem möglichst hochgelegenen Punkt in der Nähe des Sees. Sie konnte ihn auf einen Steinhaufen stellen, um seine Reichweite noch ein wenig zu vergrößern. Sie konnte sicherstellen, dass er über genügend Energie verfügte. Aber konnte sie sonst noch irgendetwas tun?
Sie dachte darüber nach, und sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Wenn oder falls Atvar H’sial zurückkehrte, wäre Darya ihr immer noch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, man konnte sie ausnutzen, retten oder einfach hier lassen, ganz wie die Cecropianerin das für richtig hielt. Vor zwei Monaten noch hätte Darya sich dieser Unausweichlichkeit gefügt; jetzt empfand sie die Situation als in jeder Hinsicht unakzeptabel.
Sie wickelte den Generator in die Decke und trug ihn durch den Wasserfall in die Höhle. Dann schob sie die wasserdichte Decke so zurecht, dass sie und das Funkfeuer vor dem Spritzwasser so gut als möglich geschützt waren. Mandel stand hoch am Himmel, aus seiner Sicht war es jetzt bald Mittag, und genug Licht drang durch den Wasservorhang.
Langsam und vorsichtig deaktivierte sie den Generator und zerlegte ihn dann teilweise. Es wäre ein übler Fehler, jetzt irgendetwas zu überstürzen, und Zeit schien das Einzige zu sein, was sie im Überfluss zur Verfügung hatte. Darya wusste, welche Schaltungen sie benötigte, doch sie musste improvisieren, um die Impedanz zu erreichen, mit der sie das Gewünschte würde erreichen können. Sie nahm die Hochspannungswechselstromleitungen und leitete den Ausgangsstrom parallel zur Frequenzstufe ein, erst durch den Transformator, dann zum Signalgeber. Dann galt es, sich auf das Gedächtnis zu verlassen und sich an Kurse in Neural-Elektronik aus längst vergangenen Zeiten zu erinnern. Der Convolver, den sie brauchte, war kaum mehr als ein nichtlinearer Oszillator, und in den Signalgeneratoren gab es Widerstände und Kondensatoren, die mehr als eine Funktion würden übernehmen können. Das Endergebnis konnte sie nicht überprüfen, doch die Veränderungen, die sie vorgenommen hatte, waren eigentlich nicht sonderlich ausgefallen. Es sollte funktionieren. Die größte Gefahr bestand darin, dass die Modifikationen vielleicht zu mehr Leistung geführt hatten.
Mandel ging bereits unter, als Darya endlich fertig war. Das umgebaute Funkfeuer wurde wieder hinaustransportiert, in das rötliche Licht von Amarant und den unablässigen Sandsturm hinaus, und dann auf dem kleinen Steinhügel positioniert. Darya aktivierte es und nickte zufrieden, als die Betriebsanzeige aufblinkte, um ihr zu verkünden, dass das Funkfeuer wieder arbeitete.
Dann schlängelte sie sich in die Höhle hinter dem Wasserfall zurück, hüllte sich ganz in die Decke und rollte sich auf dem Felsvorsprung zusammen. Kleine Steinchen bohrten sich ihr in die Seite. Vom Wasserfall trafen sie immer und immer wieder Wassertropfen, und die ganze Zeit über war das Tosen des Wassers zu hören. Dazu kam die unruhige Bewegung von Erdstoß selbst; der Planet selbst schien immer lauter aufzustöhnen, als die Streckbank der Gezeitenkräfte immer stärker angezogen wurde.
Niemand konnte erwarten, unter derartigen Bedingungen Schlaf zu finden. Darya knabberte an trockenem Schiffszwieback, schloss die Augen und konzentrierte sich auf einen einzigen Gedanken: Sie wehrte sich. Was sie getan hatte, war wenig genug, aber das war alles, was sie derzeit tun konnte.
Und morgen würde sie eine neue Idee haben, wie sie sich würde retten können.
Mit diesem Gedanken im Kopf, den halb aufgegessenen Zwieback noch in der Hand, driftete sie in den erholsamsten Schlaf, den sie hatte finden können, seit sie von Wachposten-Tor aufgebrochen war.
Hans Rebka hatte einen weiteren Grund, warum er sich wünschte, allein zu sein. Kurz bevor sie von Opal aufgebrochen waren, hatte ihn eine weitere verschlüsselte Nachricht aus dem Hauptquartier des Phemus-Kreises erreicht. Angesichts der Eile ihres Aufbruchs hatte er nicht die Zeit gehabt, sich darum zu kümmern, was man ihm so dringend mitteilen wollte; doch während die Kapsel entlang ›Nabelschnur‹ auf Erdstoß hinabsank, hatte er wenigstens einen ersten Blick auf die Nachricht werfen können. Er hatte gerade genug entziffern können, um zum Zeitpunkt ihrer Landung ziemlich beunruhigt zu sein. Während der Flugwagen ihn dann nach Norden trug, fort von der Opalseite und auf die Sternenseite von Erdstoß zu, schien diese Nachricht ihm geradezu ein Loch in die Tasche seines Jacketts zu brennen. Er stellte den Wagen auf Autopilot, ignorierte die bedrohliche Landschaft unter sich und machte sich nun ernstlich daran, die Nachricht endlich zu entschlüsseln.
Das Hauptquartier hatte von Primzahlen und cyclischen Gruppen als Basis ihres Codes auf eine Methode verketteter Invarianten umgestellt. Das machte es Unbefugten fast unmöglich, diese Nachrichten zu knacken — und für Befugte wurde sie so deutlich schwerer zu entziffern, selbst wenn man den betreffenden Schlüssel kannte. Rebka wies einen Großteil der Rechenkapazität des Bordcomputers dieser Aufgabe zu und machte sich daran, die Nachricht Symbol um Symbol zu entschlüsseln. Es war nicht gerade hilfreich, dass es bei Übertragungen während des Bose-Transits gelegentlich zu Datenverlusten kam, sodass es neben der eigentlichen Verschlüsselung auch noch zu rein statistischen Verstümmelungen kam.
Das erste Signal, das er empfangen hatte, enthielt drei voneinander unabhängige Nachrichten. Die erste davon, die er nach einer Dreiviertelstunde geduldiger Kleinstarbeit endlich entschlüsselt hatte, hätte ihn beinahe dazu gebracht, die ganze Aufzeichnung einfach aus dem Fenster seines Flugwagens zu werfen.