Rebka steigerte die Geschwindigkeit seines Flugwagens noch weiter, trieb sein Gefährt bis zum Äußersten an. Es gab nichts, was er sonst hätte tun können. Seine Gedanken machten sich auf in die Welt der Spekulationen.
Die Schwerkraft ist die schwächste aller Wechselwirkungen in der Natur. Die ›starke Wechselwirkung‹, die ›elektromagnetische Wechselwirkung‹, selbst die ›schwache Wechselwirkung‹, die den Verlauf des Beta-Zerfalls bestimmt, sind noch um mehrere Größenordnungen stärker. Zwei Elektronen, einhundert Lichtjahre voneinander entfernt, stoßen einander mit einer Feldstärke ab, die genauso groß ist wie die gravitative Anziehung zweier Elektronen, die einen halben Millimeter voneinander entfernt sind.
Aber nun betrachte man die Auswirkung gravitativer Gezeitenkräfte. Die sind noch schwächer. Sie kommen lediglich durch die Unterschiede der Gravitationskräfte zustande, die Unterschiede, die sich daraus ergeben, dass auf der einen Seite eines Objektes stärker an diesem gezogen wird als auf der anderen. Während die Schwerkraft selbst dem inversen Quadratgesetz unterliegt — doppelte Entfernung bedeutet ein Viertel der resultierenden Kraft —, unterliegen gravitative Gezeiten der inversen dritten Potenz. Doppelte Entfernung bedeutet ein Achtel der resultierenden Kraft, dreifache Entfernung ein Siebenundzwanzigstel.
Also sollten gravitative Gezeiten eigentlich zu vernachlässigen sein.
Sind sie aber nicht. Sie halten eine Milliarde Monde in der ganzen Galaxis fest, zwingen sie dazu, ihrem Mutterplaneten stets die gleiche Seite zuzuwenden; Gezeiten wirken sich endlos auf Druck oder Zug, der im Inneren einer Welt herrscht, aus, sie bewirken geologische Belastungen und verändern die Form eines Planeten bei jedem einzelnen Gezeitenzyklus, und sie zerreißen und zerfetzen jedes Objekt, das in ein Schwarzes Loch gerät, sodass die Gezeitenkräfte jeden Eindringling unabhängig von dessen eigener Kraft in die kleinsten subatomaren Komponenten zerlegen.
Denn diese Abhängigkeit der resultierenden Kraft von der dritten Potenz der Distanz gilt natürlich ebenso in umgekehrter Richtung: Halbe Entfernung bedeutet das Achtfache der Gezeitenkräfte, ein Drittel der Entfernung das Siebenundzwanzigfache der Gezeitenkräfte, ein Zehntel der Entfernung …
Bei größtmöglicher Annäherung an Mandel betrug die Entfernung des Dobelle-Systems nur ein Elftel der durchschnittlichen Distanz zu seinem Hauptstern. Das bedeutete, dass das 1131fache der durchschnittlichen Gezeitenkräfte sich auf die einzelnen Planeten des Systems auswirkte.
Das war der Gezeitensturm.
Max Perry hatte Hans Rebka diese grundlegenden Fakten dargelegt, und gerade jetzt, während er, Rebka, über die Oberfläche von Erdstoß hinwegjagte, kamen ihm Perrys Worte in den Sinn. Alle vier Stunden packten die gewaltigen, unsichtbaren Hände der Gravitationskräfte von Mandel und Amarant die Planeten Opal und Erdstoß, zerrten an ihnen und drückten auf sie ein und versuchten die ganze Zeit über, die nahezu kugelförmige Gestalt der Himmelskörper in lang gezogene Ellipsoiden zu verwandeln. Und kurz vor dem Gezeitensturm wurde die Energie der Gezeiten in das System gepumpt, und das nicht nur einmal, sondern zweimal an jedem Dobelle-Tag: bei jedem Mal in etwa die Energie von einem guten Dutzend ausgewachsener Atomkriege!
Rebka hatte bereits Welten aufgesucht, auf denen kurz zuvor ein Atomkrieg stattgefunden hatte. Basierend auf diesen Erinnerungen hatte er erwartet, einen Planeten zu erleben, dessen ganze Oberfläche in Aufruhr war, ein siedendes Chaos, in dem jegliches Leben völlig unmöglich war.
Doch dem war nicht so. Und Rebka war immens erstaunt.
Es gab vereinzelte, lokale Eruptionen — das war unvermeidlich. Aber wenn er sich den Boden anschaute, über den er immer noch hinwegraste, dann sah er nichts, was auch nur ansatzweise in der Größenordnung dessen war, was er sich vorgestellt hatte.
Was stimmte hier nicht?
Rebka und Perry hatten ein Faktum übersehen, dass eigentlich seit Newton bekannt war: Die Schwerkraft ist eine Kraft der Masse. Es ist kein Material bekannt, das die Schwerkraft würde abhalten können, das dagegen zu schützen vermochte; jedes Partikel, wo auch immer im Universum es sich befinden mochte, spürte die Gravitationskraft eines jeden anderen Partikels.
Und während so ein mit Kernwaffen geführter Krieg all seine Urgewalt auf die Atmosphäre, die Ozeane und in etwa das oberste Dutzend Meter der Oberfläche eines Planeten losließ, erfassten die Gezeitenkräfte jeden einzelnen Kubikzentimeter der ganzen Welt und drückten, zerrten und verdrehten diesen. Es sind verteilte Kräfte, die sich von der obersten Atmosphärenschicht bis zum innersten Atom des überhitzen Kerns mit seinem immensen Druck auswirken.
Rebka begutachtete die Oberfläche, doch er sah wenig, was auf ein nahendes Armageddon schließen ließ. Dieser Fehler war ebenso natürlich wie grundlegend. Er hätte viel, viel tiefer blicken müssen, dann hätte er vielleicht eine erste Vorstellung davon entwickeln können, was der Gezeitensturm wirklich war.
Ein dichte Wolke erstickenden Staubs raste kreischend über die Oberfläche, als der Flugwagen schließlich zur Landung ansetzte. Rebka steuerte den Wagen unmittelbar in den Sturm hinein, verließ sich darauf, dass die Mikrowellen-Sensoren ihm schon melden würden, falls ernst zu nehmend große Felsbrocken im Weg sein sollten. Die Landung selbst war auch weich genug, doch es gab ein anderes unmittelbares Problem. Das Such- und Rettungssystem meldete ihm, die Notbake befände sich unmittelbar vor ihm, weniger als dreißig Meter entfernt. Doch der Massendetektor beharrte darauf, nichts von der Größe eines Flugwagens sei ihm näher als dreihundert Meter. Die Welt vor dem Wagen endete mit einem Schleier umherwirbelnden Staubs und Sandes, kaum mehr als ein Dutzend Schritte vor dem Bug des Flugwagens.
Erneut warf Rebka einen Blick auf das Such- und Rettungssystem. Es gab keinen Zweifel an der Position der Notbake. Er maß Richtung und Entfernung von der Luke des Wagens aus ab. Dann zwang er sich dazu, sitzen zu bleiben und fünf Minuten zu warten, lauschte dem Sandsturm, der heulend den Wagen durchschüttelte, und hoffte, das Wetter werde sich wenigstens ein bisschen beruhigen. Doch der Wind heulte immer weiter, mit ungebrochener Wucht. Auch die Sicht verbesserte sich nicht. Schließlich streifte Rebka eine Schutzbrille über, eine Atemmaske und Hitzeschutzkleidung, dann öffnete er die Luke. Wenigstens war die Kombination der Widrigkeiten ihm durchaus vertraut. Heulender Wind, eine überhitzte Atmosphäre, übel riechende, fast giftige Luft — fast wie zu Hause. Damit hatte er sich seine ganze Kindheit auf Teufel abplagen müssen.
Er trat hinaus.
Der Sand, den der Wind hier durch die Gegend peitschte, war unglaublich: so feinkörnig, dass er seinen Weg selbst noch durch die feinsten Nähte des Schutzanzugs fand. Der Sand schabte über Rebkas Haut, blieb kleben. Schon nach wenigen Sekunden schmeckte Rebka das pulvrige Talk auf den Lippen, irgendwie war es sogar durch seinen Atemfilter gedrungen. Millionen winziger, kratzender Finger berührten ihn, zerrten an seinem Schutzanzug, und jeder einzelne versuchte, ihm den Anzug abzureißen. Ihm sank der Mut. Das war schlimmer als Teufel. Wie sollte jemand, ohne in einem Wagen Schutz zu suchen, solche Bedingungen auch nur eine einzige Stunde lang überstehen können? Das war ein Aspekt von Erdstoß, den Perry vor lauter Sorgen über Vulkanausbrüche und Erdbeben gar nicht erwähnt hatte. Doch bei hinreichend starken Störungen in der Atmosphäre war gar keine Aktivität im Planeteninneren erforderlich, um ihn für Lebensformen ungeeignet zu machen. Sand, der so fein umhergeweht wurde, dass man weder atmen noch entkommen konnte, reichte da wahrlich schon voll und ganz aus.