Aber nicht so schlimm wie der Tod.
Noch sechs Stufen.
Die Zeit war um. Er ließ die Wasserbehälter fallen.
Ein sonderbarer, klagender Schrei füllte seine Ohren, und dann wurde sein Körper angehoben und über einen felsigen Untergrund geschleift. Eiskaltes Wasser klatschte auf seine nackten Arme und Beine. Die Atemmaske wurde ihm vom Gesicht gerissen. Wenigstens würde der Tod schnell kommen.
Doch er war noch nicht bereit zu sterben. Er bäumte sich gegen die Kraft auf, die ihn festhielt, hob die Hände, um die Haltebänder der Maske zu umklammern und sie festzuhalten.
Seine verkrampften Finger berührten zwei menschliche Hände. Das Entsetzen war so gewaltig, dass er einige Sekunden lang gar nichts, nicht das Geringste, tun konnte.
»Hans! Hans Rebka!« Wieder hörte er den Schrei, und diesmal verstand er auch, was die fremde Stimme sagte.
Er öffnete die Augen, um einen letzten Blick auf den dunklen Himmel von Teufel werfen zu können. Statt rosafarbener, sturmgetriebener Wolkenfetzen sah er nur unscharf einen regelrechten Vorhang vorbeirauschenden Wassers vor sich. Und vor diesem unwirklichen Vorhang war ein staubiges Gesicht zu erkennen: Überall auf der Staubschicht zeichneten sich Wassertropfen ab, der Mund in diesem Gesicht stand offen und entließ Atem keuchend vor Anstrengung.
Es war Darya Lang.
Als Darya begriff, was sie getan hatte, war sie fast schon bereit, sich wieder hinzusetzen und erneut einfach zu weinen.
Gleich nach dem Aufwachen war sie hinausgekrochen und zur Notbake hinübergeeilt, um zu sehen, ob etwas passiert wäre. Und als sie dann durch den alles verhängenden Staub gespäht und eine Gestalt gesehen hatte, die über dem Steinhaufen zusammengesunken war, war ihre erste Reaktion reine Begeisterung gewesen. Das hatte Atvar H’sial jetzt davon! Das würde diese Cecropianerin nicht noch einmal tun! Einfach jemanden irgendwo aussetzen, egal ob diejenige lebte oder starb, und das Ganze auch noch, ohne den Grund auch nur anzudeuten!
Aber als Darya dann näher gekommen war, hatte sie begriffen, dass die Gestalt nicht die Cecropianerin sein konnte. Es war ein Mensch — es war ein Mann — ach du lieber Gott, es war Hans Rebka!
Darya stieß einen Schrei aus und rannte auf ihn zu. Der Staub von Erdstoß war für ihn ebenso lebensgefährlich wie für sie. Wenn er jetzt tot war, dann würde sie sich das niemals verzeihen.
»Hans! Oh Hans, es tut mir so leid …«
Er war bewusstlos und hörte sie nicht. Doch er war nur bewusstlos, nicht etwa tot. Darya fand die Kraft, ihn auf ihre Schultern zu wuchten — er wog weniger als sie — und ihn dann durch den Wasserfall in ihre Höhle zu tragen. Und als sie ihn dann vorsichtig auf den Felsboden legte, öffnete er die Augen. Die immense Verwirrung, die sie jetzt sah, war wohl der zufriedenstellendste Gesichtsausdruck, den sie jemals bei einem Menschen gesehen hatte.
Zwanzig Minuten konnte sie es genießen, sich um ihn zu kümmern, ihm dabei zuzuschauen, wie er einen Fluch nach dem anderen ausstieß und immer wieder grauen Staub aus der Nase blies. Es machte sie so glücklich, einfach zu sehen, dass er noch lebte. Und dann, bevor sie auch nur glauben konnte, dass er wirklich wieder ganz hergestellt sein sollte, war er auch schon wieder auf den Beinen und zwang sie dazu, mit ihm an die Oberfläche zu kommen.
»Sie sind hier nicht in Sicherheit, auch wenn Sie das vielleicht glauben.« Er rieb sich immer noch die Hände und die Arme, um die Schmerzen zu vertreiben, die der Neuralconvolver seinen Nerven zugefügt hatte. »Noch ein paar Stunden, dann ist dieser ganze Wasserfall vielleicht nur noch Dampf. Der Gezeitensturm kommt, Darya, und es gibt nur eine einzige Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen!«
Er scheuchte sie regelrecht durch die ausgedörrte Landschaft, und als er seinen Flugwagen erreicht hatte, führte er eine kurze Blitzinspektion durch. Nach wenigen Minuten schüttelte er den Kopf und setzte sich einfach nur hin. »Es ist völlig egal, wohin Atvar H’sial gegangen ist oder ob sie zurückkommen wird. Mit diesem Ding hier kommen wir nicht mehr weit.« Er beugte sich weit genug vor, um mit den Fingerspitzen über die Ansaugmodule unter dem Bodenblech zu fahren. »Schauen Sie selbst!«
Der Sturm legte sich ein wenig, doch das Innere der Ventile war immer noch verstopft. Und was noch schlimmer war: Als Rebka den Staub fortwischte, war deutlich zu erkennen, wie erodiert das Metall darunter war.
»Das kommt vom Flug hierher und von der Landung.« Er befestigte wieder das Schutzgitter. »Ich denke, wir sollten noch einen längeren Flug hinbekommen, ohne dass wir vorher den Wagen reparieren oder vollständig überholen lassen, aber mehr möchte ich gar nicht ausprobieren. Und wir können nicht riskieren, in noch einen Sandsturm hineinzufliegen. Wenn uns das passiert, dann müssen wir höher gehen und abwarten, bis wir wieder herunterkommen können. Und dann darf uns nicht die Energie ausgehen, wir dürfen keinen extremen Gegenwind bekommen, sonst sind wir erledigt!«
»Aber was ist mit diesen Carmel-Zwillingen? Nach denen sollten Sie doch eigentlich suchen!« Darya Lang kauerte immer noch vor den Ansaugmodulen. Sie hatte Rebka erklärt, warum sie diese Falle gestellt hatte und wie Atvar H’sial sie im Stich gelassen hatte. Er schien das, was sie sagte, einfach hinzunehmen, als sei all das nur ein unbedeutendes Detail. Doch sie hatte Schwierigkeiten, ihm in die Augen zu schauen.
Sie wusste auch warum. Diese Falle war mehr als nur aus dem Bedürfnis geboren, sich schützen zu wollen, wenn Atvar H’sial zurückkehrte. Sie hatte versucht, sich für das zu rächen, was Atvar H’sial ihr angetan hatte. Nur war ihr Rachepfeil vom Kurs abgekommen und hatte den falschen erwischt.
»Wir können nichts tun, was den Zwillingen helfen würde«, erwiderte Rebka. »Wir müssen einfach hoffen, dass Graves und Perry mehr Glück hatten als ich. Vielleicht werden die sie ja finden, oder vielleicht kann ihnen dieses Raumschiff helfen, dass J’merlia und Sie gesehen haben. Aber ich bezweifle das, um ehrlich zu sein, wenn das Schiff dem gehört, an den ich denke.«
»Louis Nenda?«
Er nickte und wandte sich ab. Er hatte seine eigenen Gründe, möglichst ruhig und entspannt zu wirken. Zum einen war er so geradewegs in Darya Langs Falle getappt, dass es ihn regelrecht wurmte. Eigentlich sollte er doch der Gerissene, Vorsichtige hier sein, doch stattdessen war er unvorsichtig und gedankenlos gewesen. Noch vor fünf Jahren hätte er alles und jeden nach Fallen abgesucht. Und in die hier war er hineingetappst wie ein Kleinkind.
Zweitens: im Laufe der Jahre hatte er festgestellt, dass Träume von seiner Kindheit auf Teufel ein sehr hilfreicher Indikator waren. Sie waren sein Unterbewusstsein, das ihm irgendetwas wirklich Wichtiges mitzuteilen versuchte. Er hatte solche Träume immer nur, wenn er in ernst zu nehmenden Schwierigkeiten steckte, und immer nur dann, wenn er noch nicht wusste, wie genau diese Schwierigkeiten aussehen würden.
Der dritte wichtige Punkt — und das mochte durchaus auch die Triebkraft für die beiden anderen Sorgen sein, die er sich machte — betraf Erdstoß selbst: Der Planet hatte sich seit der Landung vor der Notbake verändert. Auf den ersten Blick mochte man diese Veränderung als eine Veränderung zum Guten ansehen. Der Wind hatte deutlich nachgelassen, der bisher umherwirbelnde Sand war jetzt nichts als eine etwas störende, aber an sich erträgliche Decke von vielleicht einem halben Zentimeter Dicke, die auf allem und jedem lag, und selbst das Grollen der Vulkane in der Ferne hatte aufgehört.
Doch das war unmöglich. Es blieben weniger als vierzig Stunden bis zum eigentlichen Gezeitensturm. Amarant hing unmittelbar über ihnen am Himmel, ein riesenhaftes, blutunterlaufenes Auge, das fünf Grad des ganzen Himmel abdeckte; Mandel im Westen war noch einmal um die Hälfte größer, und Gargantua war hell genug, als dass man ihn sogar zur Mittagsstunde von Mandel am Himmel erkennen konnte. Die Energie der Gezeitenkräfte, die hier in das Innere von Erdstoß und Opal strömte, war ungeheuerlich genug, um kontinuierliche, beträchtliche Veränderungen auf dem Planeten zu bewirken.