Also wo war diese Energie hin?
Energie musste erhalten bleiben, auch auf Erdstoß, aber sie konnte natürlich die Form ändern. Wurde sie in irgendeinem bisher unbekannten physikalischen Prozess im Innersten des Planeten gespeichert?
»Ich nehme an, wir könnten einfach hierbleiben und es aussitzen«, schlug Darya Lang vor und blickte sich um. »So ruhig war es schon lange nicht mehr. Wenn es nicht viel schlimmer wird als vorhin …«
»Doch. Es wird noch viel schlimmer werden.«
»Wie schlimm?«
»Das weiß ich noch nicht so genau.«
Das war natürlich eine immense Untertreibung. Er hatte keine Ahnung, wie schlimm es noch werden konnte, und letztendlich war es auch egal. Wir müssen von Erdstoß verschwinden, sagte ihm eine leise Stimme unmittelbar ins Ohr, oder wir sind erledigt. Er war froh, dass Darya diese Stimme nicht hören konnte, doch er hatte gelernt, diese Stimme niemals zu ignorieren.
»Wir müssen los«, entschied er also. »Jetzt gleich, wenn Sie bereit sind.«
»Und wohin?«
»Bis zu ›Nabelschnur‹ und dann zur ›Mittelstation‹. Dort sollten wir sicher sein. Aber wir können nicht mehr allzu lange warten. ›Nabelschnur‹ ist darauf programmiert, sich vor dem Gezeitensturm von der Oberfläche abzukoppeln.«
Sie stieg in den Flugwagen und warf einen Blick auf das Chronometer. »Die Abkopplung erfolgt zwölf Stunden vor dem Höhepunkt des Gezeitensturms. Das ist von jetzt an gerechnet in siebenundzwanzig Stunden. Und wir können in einem Dobelle-Tag da sein. Wir haben reichlich Zeit.«
Rebka schloss die Wagentür. »Ich mag es, reichlich Zeit zu haben. Los geht’s!«
»Also gut.« Sie lächelte ihn an. »Aber Sie haben von Erdstoß mehr gesehen als ich. Was glauben Sie, wird während des Gezeitensturms passieren?«
Rebka holte tief Luft. Sie versuchte, nett zu ihm zu sein, aber, und das war noch schlimmer, sie ging davon aus, dass er angespannt war und unbedingt beruhigt werden müsste. Und das Schlimmste war: sie hatte recht. Er war viel zu angespannt. Er konnte es selbst nicht erklären — außer dass er schon einmal auf Erdstoß richtig kräftig hereingefallen war: Als er gedacht hatte, etwas sei völlig ungefährlich, obwohl das eben nicht der Fall gewesen war. Er wollte nicht, dass ihm das noch einmal passierte. Und jede einzelne Nervenfaser in seinem ganzen Körper schrie ihn regelrecht an, er solle zusehen, dass er so schnell wie möglich von Erdstoß wegkäme.
»Darya, ich würde sehr gerne mit Ihnen über den Gezeitensturm plaudern.« Er war nicht verärgert darüber, dass sie ihn in diese Falle hatte gehen lassen, das sagte er sich immer und immer wieder selbst; eher war er beeindruckt. »Aber ich würde das lieber tun, wenn wir ›Nabelschnur‹ erreicht haben, losgefahren sind und uns schon kurz vor ›Mittelstation‹ befinden. Sie halten mich jetzt vielleicht für einen Feigling, aber dieser Ort hier jagt mir wirklich Angst ein. Wenn Sie also zur Seite rücken würden, damit ich an die Instrumente komme …«
18
Gezeitensturm minus fünf
Die Sommer-Traumschiff war sorgfältig verborgen.
Die Pentacline-Senke war die größte Auffälligkeit der Oberfläche von Erdstoß. Einhundertfünfzig Kilometer breit, strotzend vor lebhafter, kräftiger Vegetation, konnte man sie vom All aus schon auf eine Entfernung von einer halben Million Kilometern erkennen, ein seesternförmiger, rötlich-brauner Fleck auf der staubgrauen Oberfläche von Erdstoß. Zugleich war die Pentacline-Senke auch der tiefste Punkt des Planeten. Die fünf Täler der Senke, die strahlenförmig von der mittleren Vertiefung in alle Richtungen abgingen und dabei immer flacher wurden, mussten einen Höhenunterschied von mehr als achthundert Metern zurücklegen, um die Höhe der sie umgebenden Ebene zu erreichen.
Das kleine Raumschiff war nahe der Mitte des nördlichen Seitenarms gelandet, an einem Punkt, wo die dichte Vegetation durch eine kleine, flache ›Insel‹ aus schwarzem Basalt durchbrochen war. Doch das Schiff hatte sich dem kahlen Felsbrocken in einem sehr flachen Landeanflugwinkel genähert und war bis ganz an die Kante vorgerutscht. Nun war es durch kräftigen neuen Pflanzenwuchs vor der Entdeckung aus größerer Höhe fast vollständig geschützt. Die Sommer-Traumschiff, kaum größer als ein Flugwagen, war unter einem dichten Dach aus Laub, einem Dach, das fünf Meter Durchmesser besaß, verborgen. Niemand befand sich an Bord, und alle Lebenserhaltungssysteme waren deaktiviert. Nur die Reststrahlung des Bose-Antriebs verriet überhaupt die Anwesenheit des Schiffes.
Max Perry stand an Bord des verlassenen Schiffes und blickte sich erstaunt um. Mit dem Kopf stieß er fast gegen das Dach, und der ganze Wohnraum war kaum drei Meter breit. Mit einem einzigen Schritt kam er von der Haupteinstiegsluke zur winzigen Kombüse; ein weiterer Schritt, und schon stand er vor den Instrumenten.
Er begutachtete die einfachen Displays mit ihren Dutzenden bunter Hebelchen und Anzeigen und schüttelte den Kopf. »Das ist doch nur ein Spielzeug! Ich wusste nicht, dass man mit so etwas Kleinem überhaupt in das Bose-Netzwerk hineinkommt!«
»So ist das eigentlich auch nicht gedacht.« Graves hatte sich wieder unter Kontrolle. Er sah zwar immer noch nicht ganz gesund aus, doch seine Finger zuckten nicht mehr so heftig, und über sein knochiges Gesicht brandeten nicht unablässig die unterschiedlichsten Emotionen hinweg. »Das hier ist als kleines Touristen-Schiff konstruiert worden, für kleine Ausflüge innerhalb des Systems. Die Konstrukteure haben nicht damit gerechnet, dass nachträglich noch ein Bose-Antrieb eingebaut werden würde, und ganz gewiss wäre niemand auf die Idee gekommen, damit derart viele Bose-Transits hintereinander durchzuführen. Aber so ist das eben auf Shasta — auf diesem Planeten haben die Kinder das Sagen. Die Carmel-Zwillinge haben ihre Eltern einfach überredet.« Er wandte sich zu J’merlia um. »Würdest du bitte Kallik sagen, sie soll damit aufhören, bevor sie noch irgendetwas Gefährliches anstellt?«
Das kleine Hymenopter-Weibchen war hinüber zum Antrieb des Schiffes gelaufen. Dessen Abdeckung hatte sie entfernt und spähte nun hinein. Nun, als Graves mit J’merlia gesprochen hatte, drehte sie sich um.
»Das ist gefahrlos«, übersetzte J’merlia, nachdem er kurz einer Reihe Klick- und Pfeiflauten gelauscht hatte. »Bei allem Respekt, Kallik sagt, sie sei das genaue Gegenteil von ›gefährlich‹. Sie weiß, dass jemand, der so dumm ist wie sie, nur wenig über etwas so Kompliziertes wie einen Bose-Antrieb wissen kann, aber sie ist sich recht sicher, dass die Energieeinheit dieses Antriebs hier erschöpft ist. Sie kann auch nicht wieder einsatzbereit gemacht werden. Es ist fraglich, ob dieses Schiff hier überhaupt in der Lage wäre, auch nur in eine enge Umlaufbahn einzuschwenken. Anhand des schwachen Signals, das die Detektoren des Schiffes ihres Meisters aufgefangen hatten, als sie die Oberfläche des Planeten scannten, hatte sie Derartiges bereits vermutet.«
»Das würde auch erklären, warum die Zwillinge Erdstoß nicht wieder verlassen haben.« Perry hatte sich dem Display zugewandt und ging nun das Computerlogbuch durch. »Und das passt auch zu der sonderbaren Route, die sich die beiden ausgesucht haben. Hier steht eine Bose-Netzwerk-Sequenz, mit der die beiden mit zwei weiteren Transits zuerst in das Dobelle-System gekommen wären und dann geradewegs auf das Gebiet der Zardalu-Gemeinschaft; aber diese Route zu nehmen war ihnen ohne eine neue Bose-Energiequelle nicht möglich. Sie hätten eine neue auf ›Mittelstation‹ bekommen können, aber das konnten sie natürlich nicht wissen. Also war der einzige andere Ort, den sie in diesem System hätten aufsuchen können, Opal, und dort hätten wir ihre Ankunft sofort bemerkt.«