»Vielleicht.« Perry hob einen Fuß und drückte dann einen bisher unbeschadeten Halm nach unten, um zu sehen, wie stabil der war. »Aber ich bezweifle das. Was auch immer die niedergedrückt hat, war ungefähr so schwer wie ein Mensch. Ich habe noch nie von irgendeiner Lebensform hier in der Senke gehört, deren Gewicht auch nur ein Viertel von dem eines Menschen betragen hätte. Wenigstens macht es das uns einfacher, dieser Spur zu folgen.«
Er ging neben dem Ablauf entlang, folgte immer weiter der Spur der niedergetretenen Gräser. Das saftig-grüne Zwielicht hier war immer düsterer geworden, doch es fiel ihm nicht schwer, der Spur weiter zu folgen. Sie verlief parallel zu dem ausgetrockneten Wasserlauf, dann führte sie nach und nach in den Lauf hinein. In dreißig Metern Entfernung war der Boden des Trampelpfades von dichten, zähen Farndickicht überwuchert.
Graves legte Perry die Hand auf die Schulter und ging an ihm vorbei.
»Wenn Sie recht haben«, meinte er leise, »dann ist das von jetzt an hier mein Spiel. Lassen Sie mich vorgehen — allein! Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.«
Einen Augenblick starrte Perry ihn nur schweigend an, dann gestattete er Graves tatsächlich, an ihm vorbeizugehen. In den letzten fünf Minuten hatte sein Begleiter sich sichtlich verändert. Jede Spur seiner sonst allgegenwärtigen Unsicherheit war verschwunden, stattdessen strahlte er jetzt Stärke, Herzlichkeit und Mitgefühl aus. Er war ein völlig anderer Mann — er verhielt sich so, wie man das von einem echten Ratsmitglied erwartet hätte.
Vorsichtig ging Graves am Bachbett entlang, bis er nur noch wenige Meter von dem dichten Schleier aus Farnen entfernt war. Er blieb stehen, lauschte, und nachdem er einige Sekunden gewartet hatte, nickte er kurz und wandte sich zu Perry um. Er winkte, eine geradezu groteske Bewegung, dann teilte er den Farnvorhang und trat in das düstere Innere des Dickichts.
Es waren die Carmel-Zwillinge, sie mussten es einfach sein, auch wenn Perry darauf gewettet hätte, es sei anders, als er, Graves und Rebka von Opal aufgebrochen waren. Doch was redete Graves denn mit ihnen, so tief in der Dunkelheit verborgen?
Einige Minuten in der Pentacline fühlten sich, so nah vor dem Gezeitensturm, an wie Stunden. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit waren entsetzlich. Immer und immer wieder blickte Perry auf die Uhr, er konnte einfach nicht glauben, dass die Zeit so langsam verstrichen sein sollte. Obwohl es mitten am Tag war, und Mandel immer noch im Begriffstand, aufzugehen, fiel es Perry zunehmend schwer, seine Umgebung zu erkennen. Braute sich dort ein Sturm zusammen, hoch oben in der Atmosphäre? Perry blickte senkrecht nach oben, doch durch die zahlreichen Schichten der Vegetation konnte er nichts erkennen. Unter sich jedoch nahm er zahllose Anzeichen für die Aktivität von Erdstoß wahr. Der wurzelüberwucherte Waldboden bebte und zitterte unablässig.
Noch fünfunddreißig Stunden bis zum Höhepunkt des Gezeitensturms.
Perry hatte die Zeit stets im Kopf, und ebenso immer die gleiche Frage. Sie hatten versprochen, J’merlia und Kallik an den Ort zurückzubringen, an dem sie die beiden gefunden hatten. Das Versprechen hatten sie in gutem Glauben und ohne jeden Hintergedanken gegeben. Doch konnten sie das überhaupt tun, wenn sie doch wussten, dass Erdstoß schon bald eine tödliche Falle sein würde, für jegliche Lebewesen, außer denen, die sich in besonderer Weise an ihre Umwelt angepasst hatten?
Ein plötzlich aufflammendes, gleißendes Licht vor ihm riss ihn aus den Gedanken. Der Farn-Vorhang wurde zur Seite gebogen, dahinter stand Graves und bedeutete ihm mit einer Geste, ihm zu folgen.
»Kommen Sie! Ich möchte, dass Sie das hören: Ein weiterer Zeuge ist hier nur von Vorteil.«
Max Perry bahnte sich seinen Weg durch die stacheligen Farnwedel. Von innen beleuchtet konnte man doch zwischen dem dichten Gestrüpp deutlich weniger erkennen, als er erwartet hatte. Die Farnwedel bildeten nur eine äußere Begrenzung, eine Art natürlichen Zaun, in dessen Mitte ein flexibles Zelt aufgestellt worden war, das von Druckluftspanten gehalten wurde. Graves hielt eine Zeltplane fest, die als Tür diente, und als Perry dann in das Innere des Zeltes trat, war er erstaunt, wie geräumig es war. Die Grundfläche betrug mindestens zehn mal zehn Meter. Selbst mit den nach innen geneigten Wänden bot es verblüffend viel Platz. Und das Mobiliar war erstaunlich komplett: alles, was man für ein normal-luxuriöses Leben brauchte. Ein Gerät zur Steuerung der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit summte, sodass im Inneren des Zeltes angenehme Bedingungen herrschten. Und im Ganzen war dieses Zelt ausgezeichnet vor jedem verborgen, der sich bei der Suche nicht mehr als die übliche Mühe gab. Kein Wunder, dass die Zwillinge es vorzogen, sich hier aufzuhalten, statt in der beengten Kabine der Sommer-Traumschiff.
Das Zelt musste außerdem so beschaffen sein, dass keinerlei Licht nach außen drang, oder aber die Beleuchtung war gerade eben erst eingeschaltet worden. Doch Perry blieb nur wenig Zeit, die Leuchtzylinder an den Wänden zu begutachten, ehe die Bewohner des Zeltes seine ganze Aufmerksamkeit forderten.
Elena und Geni Carmel saßen an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand, Seite an Seite, die Hände auf die Knie gestützt. Sie trugen gelbbraune Jumpsuits, ihr kastanienbraunes Haar war so geschnitten, dass der Pony ihnen tief über die Stirn fiel. Perrys erster Eindruck — und der war überwältigend — war, die gleiche Person zweimal zu sehen, und beide ähnelten Amy ebenso sehr wie damals auf den Bildern, die man ihm auf Opal gezeigt hatte — es hatte ihm buchstäblich den Atem geraubt.
Doch jetzt, in natura, in der gleißenden Beleuchtung, die im Zelt herrschte, kehrte seine Vernunft schnell wieder zurück. Wenn diese Zwillinge Ähnlichkeit mit Amy hatten, dann nur, weil sie die gleiche Kleidung und einen ähnlichen Haarschnitt trugen. Elena und Geni Carmel wirkten abgekämpft und müde, soweit von Amys forschen, unbesiegbaren Selbstbewusstsein entfernt, wie das nur denkbar war. Die Sonnenbräune, auf den Bildwürfeln noch deutlich zu erkennen, war längst verschwunden, war der Blässe der Erschöpfung gewichen.
Und die beiden Zwillinge unterschieden sich doch voneinander. Auch wenn ihre Gesichtszüge einander deutlich ähnelten, galt das nicht auch für ihren Gesichtsausdruck. Eine von beiden war eindeutig die dominantere — vielleicht war sie einige Minuten früher geboren, oder sie war eine Winzigkeit größer und schwerer?
Sie war auch diejenige, die Max Perry nun in die Augen blickte. Die andere hielt den Blick unverwandt gesenkt, auf den Zeltboden geheftet, blickte nur einmal kurz und scheu mit großen Augen unter erkennbar schweren Lidern zu ihrem neuen Besucher auf. Doch sie schien keinerlei Schwierigkeiten mit Graves zu haben und wandte sich nun ihm zu, als er die Zeltplane schloss und sich den beiden gegenübersetzte.
Dann deutete er auf einen Stuhl neben dem seinen. »Elena …«, er zeigte auf die selbstbewusstere der beiden Zwillinge, »… und Geni haben eine harte Zeit hinter sich.« Seine Stimme klang sanft, fast schüchtern. »Meine Lieben, ich weiß, dass es unschön ist, wieder daran denken zu müssen; aber ich möchte, dass Sie dem Commander genau das erzählen, was Sie gerade mir erzählt haben … und diesmal werden wir das auch aufzeichnen.«
Erneut blickte Geni Carmel kurz zu Perry hinüber und schaute dann ihre Schwester fragend an.
Elenas Finger verkrampften sich um ihre Knie. »Von Anfang an?« Dafür, dass sie so zierlich war, klang ihre Stimme erstaunlich tief.
»Nicht ganz von Anfang an. Sie müssen nicht erzählen, wie Sie auf Shasta die Reise begonnen haben — davon existieren bereits Aufzeichnungen. Bitte fangen Sie damit an, wie Sie auf Pavonis Vier angekommen sind!« Graves hielt den beiden ein kleines Aufzeichnungsgerät entgegen. »Sobald Sie fertig sind, kann die Aufzeichnung beginnen.«