»Allianzrat«, unterbrach Perry das Gespräch; wieder blickte er auf seine Uhr, »wir sind schon drei Stunden fort! Wir müssen zurück.«
»Also gut. Wir können hier auch eine Pause machen.« Graves griff nach dem Aufzeichnungsgerät und wandte sich dann wieder Elena und Geni Carmel zu. »Auf Shasta wird eine Untersuchung und ein Prozess stattfinden, unter strenger Einhaltung aller gesetzlichen Regelungen, und auch eine Anhörung auf Miranda. Aber ich kann Ihnen versichern, dass das, was Sie mir bisher schon erzählt haben, ausreichen wird, um Sie auf jeden Fall vom Vorsatz freizusprechen. Dass die Bercia gestorben sind, war ein Unfall; Sie wussten nicht, wen Sie da umbringen, Sie waren völlig verängstigt und noch im Halbschlaf. Für mich bleibt nur noch eine Frage offen: warum Sie geflohen sind. Aber auf diese Erklärung kann ich noch warten.« Er stand auf. »Jetzt muss ich Sie beide festnehmen. Ab jetzt stehen Sie unter Arrest. Und wir müssen diesen Ort hier verlassen.«
Einen Sekundenbruchteil lang blickten die Zwillinge einander an.
»Wir werden nicht gehen«, entgegneten sie atemlos, absolut zeitgleich.
»Das müssen Sie! Sie sind in Gefahr. Wir alle sind in Gefahr.«
»Wir werden hier bleiben und sehen, was geschieht«, erklärte Elena.
Graves blickte sie stirnrunzelnd an. »Sie verstehen nicht — Commander Perry kann Ihnen das genauer erklären, aber ich werde es jetzt ganz einfach ausdrücken: Sie mögen das Gefühl haben, Sie wären hier in Sicherheit, aber Sie haben keine Chance, den Gezeitensturm zu überstehen, wenn Sie hier auf Erdstoß bleiben.«
»Dann lassen Sie uns hier!« Elena Carmel stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Wir bleiben hier. Falls wir sterben, wird das doch Strafe genug sein, um alle zufriedenzustellen.«
Graves seufzte und setzte sich wieder. »Commander Perry, Sie müssen jetzt gehen. Gehen Sie zurück zu den anderen und fliegen Sie los! Ich kann hier nicht weg.«
Perry blieb stehen, doch er löste seine Waffe vom Gürtel und richtete sie auf die Zwillinge. »Damit kann man jemanden umbringen, aber man kann diese Waffe auch auf Betäubung stellen. Wenn der Allianzrat das wünscht, dann können wir euch auch bewusstlos zum Flugwagen bringen.«
Beunruhigt starrten die beiden jungen Frauen die Waffe an, doch Graves schüttelte den Kopf. »Nein, Commander«, meinte er mit matter Stimme, »das ist keine Lösung. Wir werden die beiden niemals den Abhang hinaufschaffen können, und das wissen Sie auch. Ich werde hier bleiben. Sie müssen gehen und J’merlia und Kallik erzählen, was hier passiert ist.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Und machen Sie schnell, bevor es zu spät ist.«
Donnergrollen in der Ferne verlieh seinen Worten Nachdruck. Perry blicke auf, doch er bewegte sich nicht einen Millimeter.
»Sagen Sie mir warum«, fuhr Graves jetzt fort. Er öffnete die Augen wieder und begann dann, im Zelt auf und ab zu gehen. »Sagen Sie mir, warum Sie nicht mit mir zurückkommen wollen. Glauben Sie, ich sei Ihr Feind — oder dass die Gouverneure der Allianz alle blutrünstige Ungeheuer sind? Glauben Sie, unser ganzes Rechtssystem sei nur darauf ausgelegt, junge Frauen quälen und foltern zu können? Dass der Rat in irgendeiner Weise billigen würde, wenn man Sie misshandelte? Wenn das irgendetwas nutzt, dann gebe ich Ihnen gerne mein persönliches Versprechen, dass Ihnen kein Leid zugefügt wird, wenn Sie jetzt mit mir kommen. Aber bitte erzählen Sie mir, wovor Sie solche Angst haben!«
Fragend blickte Elena Carmel zu ihrer Schwester hinüber. »Sollen wir?« Und dann, als Geni nickte, sagte sie: »Man würde uns einer Behandlung unterziehen. Rehabilitieren. Oder nicht?«
»Naja … ja.« Graves blieb stehen. »Aber doch nur, um Ihnen zu helfen. Das würde die schmerzhaften Erinnerungen löschen — Sie wollen doch nicht den Rest Ihres Lebens immer und immer wieder diese Nacht auf Pavonis Vier durchleben! Das ist eine Therapiemaßnahme. Die schadet Ihnen doch nicht!«
»Das können Sie nicht mit Sicherheit sagen«, widersprach Elena. »Ist die Rehab nicht dazu da, bei Geisteskrankheiten zu helfen? Egal, was für Geisteskrankheiten?«
»Naja, es richtet sich natürlich immer gegen ein besonderes Ereignis oder Problem. Aber es hilft bei allem.«
»Selbst bei einem Problem, das wir gar nicht als ein Problem ansehen.« Zum ersten Mal übernahm Geni Carmel in diesem Gespräch die Führung. »Die Rehab soll uns ›gesünder‹ machen. Aber wir sind nicht ›gesund‹, zumindest nicht gemäß den Definitionen, nach denen Sie und der Rat vorgehen.«
»Geni, ich habe keine Ahnung, wovon Sie da sprechen, aber niemand ist vollkommen ›gesund‹.« Graves seufzte und rieb sich über den kahlen Schädel. »Ich am allerwenigsten. Aber ich würde mich sofort in die Rehab begeben, wenn das als notwendig erachtet würde.«
»Aber angenommen, Sie hätten ein Problem, von dem Sie gar nicht wollten, dass es behoben wird?«, fragte Elena jetzt. »Irgendetwas, das Ihnen wichtiger ist als alles andere in der Welt?«
»Ich weiß nicht, ob ich mir so etwas überhaupt würde vorstellen können.«
»Na, sehen Sie! Und Sie repräsentieren das Denken des Rates«, konstatierte Geni, »das Denken der menschlichen Spezies.«
»Aber Sie sind doch auch Menschen.«
»Aber wir sind anders«, merkte Elena an. »Haben Sie jemals von Mina und Daphne Dergori gehört, von unserer Heimatwelt Shasta?«
Verwirrt hielt Graves inne. »Habe ich nicht«, erwiderte er dann. »Sollte ich denn?«
»Das sind Schwestern«, erklärte Elena. »Zwillingsschwestern. Wir haben sie kennen gelernt, als wir noch ganz klein waren. Sie sind im gleichen Alter wie wir, und wir haben viel gemeinsam. Aber sie und ihre ganze Familie waren in einen Raumschiffunfall verwickelt. Fast alle sind dabei umgekommen. Mina und Daphne und drei weitere Kinder wurden im letzten Moment von einem Mitglied der Besatzung in eine Pinasse geworfen und haben überlebt. Als sie dann nach Hause gekommen sind, wurden sie einer Rehab unterzogen. Damit sie vergessen konnten.«
»Das war doch gut so.« Kurz blickte Graves zu Perry hinüber, der wieder auf seine Uhr deutete. »Und es hat auch bestimmt funktioniert. Oder nicht?«
»Es hat ihnen dabei geholfen, den Unfall zu vergessen.« Geni war bleich, und ihre Hände zitterten. »Aber verstehen Sie denn nicht? Sie haben dabei einander verloren.«
»Wir haben sie wirklich gut gekannt«, ergriff nun wieder Elena das Wort. »Wir haben verstanden, was in ihnen vorging. Sie waren genauso wie wir; sie waren einander genauso nah wie wir. Aber nach der Rehab, als wir sie da wieder getroffen haben … da war diese Nähe weg. Ganz und gar weg. Sie waren einander nicht mehr näher als andere Leute auch.«
»Und das würde uns ebenso ergehen«, fügte Geni hinzu. »Verstehen Sie denn nicht, dass das für uns schlimmer wäre, als zu sterben?«
Einige Augenblicke blieb Graves reglos stehen, dann ließ er sich in einen Stuhl fallen. »Und deswegen sind Sie von Pavonis-Vier geflohen? Weil Sie Angst hatten, wir würden Sie einander wegnehmen?«
»Wäre das denn nicht so?«, fragte Elena nach. »Würden Sie denn nicht wollen, dass wir ein ›normales‹ und ›unabhängiges‹ Leben führen können? Gehört das nicht zur Rehab dazu?«
»Beim Herrn aller Herren!« Jetzt setzten in Graves Gesicht wieder die spastischen Zuckungen ein. »Hätten wir das getan? Hätten wir das wirklich? Ja, das hätten wir wohl. Das hätten wir!«
»Weil Nähe zueinander und Abhängigkeit voneinander ›unnatürlich‹ sind«, hielt ihm Elena verbittert entgegen. »Man würde versuchen, uns zu heilen. Diese Vorstellung ist für uns unerträglich! Deswegen werden Sie uns umbringen müssen, bevor wir mit Ihnen mitkommen. Also gehen Sie jetzt, und lassen Sie uns beisammen bleiben! Wir wollen diese Heilung nicht. Wenn wir sterben, dann wenigstens zusammen!«