Graves schien nicht zuzuhören, »Blind«, flüsterte er. »Ich war blind von meiner eigenen Hybris. Ich war überzeugt davon, dass mir die Gabe verliehen worden wäre, jeden Menschen verstehen zu können. Aber kann ein Individuum überhaupt ein anderes Lebewesen zur Gänze verstehen? Gibt es so viel Empathie? Ich bezweifle es!«
Er richtete sich auf, ging zu den beiden Frauen hinüber und legte die Hände aneinander, wie zum Gebet. »Elena und Geni Carmel, bitte hören Sie mir zu! Wenn Sie jetzt mit mir kommen und einer Rehabilitation für das, was auf Pavonis Vier geschehen ist, zustimmen, wird man Sie nicht trennen. Niemals. Es wird niemals ein Versuch unternommen werden, Ihr Bedürfnis, zusammen zu sein, zu ›behandeln‹ oder die Nähe, die zwischen Ihnen beiden besteht, zu zerstören. Sie werden weiterhin Ihr Leben gemeinsam verbringen können. Das schwöre ich Ihnen, bei jedem einzelnen Atom meines Körpers, mit meiner vollen Autorität als Mitglied des Rates der Allianz.«
Er ließ die Arme sinken und wandte sich um. »Ich weiß, dass ich von Ihnen verlange, mir mehr zu vertrauen, als eigentlich vernünftig wäre. Aber bitte tun Sie es! Besprechen Sie das miteinander! Commander Perry und ich werden draußen warten. Bitte reden Sie miteinander … und sagen Sie mir dann, dass Sie mit uns kommen wollen!«
Zum ersten Mal, seit Perry das Zelt betreten hatte, lächelten die Carmel-Zwillinge.
»Allianzrat«, meinte Elena leise, »Sie haben recht, wenn Sie sagen, Sie würden Zwillinge nicht verstehen. Begreifen Sie denn nicht, dass Sie nicht das Zelt verlassen müssen und dass wir das nicht miteinander besprechen müssen? Wir beide wissen, was der jeweils andere denkt und fühlt.«
Völlig zeitgleich standen die beiden Frauen auf und sagte einstimmig: »Wir werden mit Ihnen kommen. Wann müssen wir aufbrechen?«
»Jetzt.« Perry war nur ein stiller Beobachter gewesen, hatte immer und immer wieder zu den drei Personen geschaut, die vor ihm standen, und dann auf seine Uhr. Zum ersten Mal akzeptierte er die Vorstellung, Julius Graves habe wirklich die Gabe, in einer Art und Weise mit Menschen umzugehen, die Perry niemals würde entwickeln können. »Wir alle müssen jetzt, in diesem Augenblick, aufbrechen. Schnappen Sie sich alles, was Sie unbedingt brauchen, aber nicht mehr als das! Wir waren länger hier, als wir geglaubt haben. Bis zum Gezeitensturm sind es nur noch weniger als sechsunddreißig Stunden.«
Der Flugwagen hob von der schwarzen Basaltoberfläche ab.
Zu langsam, sagte sich Max Perry. Zu langsam und zu träge. Wo liegt denn die Lastgrenze des Wagens? Ich wette, die haben wir fast erreicht.
Er sagte den anderen nichts davon, doch seine innere Anspannung versuchte, den Wagen mit reiner Willenskraft schneller werden zu lassen, bis sie eine sichere Flughöhe erreicht hätten, um dann zu ihrem letzten Landepunkt zurückzukehren.
Anscheinend teilten die anderen seine Besorgnis nicht. Elena und Geni Carmel wirkten erschöpft, sie lagen rücklings in ihren Sesseln im hinteren Teil des Wagens und starrten müde zum gleißenden Himmel hinauf. Graves legte jetzt wieder diese manische Heiterkeit an den Tag, er fragte J’merlia, und mit dessen Hilfe auch Kallik, über die Zardalu-Clade und Kalliks eigene Heimatwelt aus. Perry kam zu dem Schluss, dass es wohl wieder Steven war, der hier agierte, der beständig weitere Informationen aufzusaugen suchte.
Perry selbst blieb nur wenig Zeit, die anderen zu beobachten oder sich zu unterhalten. Auch er war müde — er hatte seit mehr als vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen —, doch die Energie, die Nervosität schenken kann, hielt ihn hellwach. In den letzten Stunden hatte sich die Atmosphäre von Erdstoß sichtlich verändert. Statt unter einem staubigen, aber sonnenlichtdurchfluteten Himmel entlangzurasen, flog der Wagen jetzt unter einer dichten, beständigen Decke aus aufwallenden Wolken hinweg, schwarz und staubigrot. Sie mussten sich unbedingt in Sicherheit bringen, mussten diese Wolkendecke durchstoßen, doch Perry wagte es nicht, den Flugwagen den unkalkulierbaren Scherungen des Windfeldes auszusetzen. Selbst auf der jetzigen Flughöhe, noch weit unterhalb der Wolkendecke, packten und rüttelten immer wieder plötzliche Turbulenzen den Wagen. Es war zu gefährlich, schneller als mit halber Kraft zu fliegen. Immer und immer wieder flammten gezackte Blitze auf, zerrissen staubigrot den Vorhang aus umherwirbelndem Staub, fuhren vom Himmel bis zur Oberfläche des Planeten. Von Minute zu Minute drängte sich die Unterseite der Wolkendecke näher an den Boden heran.
Perry blicke hinunter. Er konnte ein Dutzend versprengter Seen und Tümpel erkennen, die das Wasser, das sich darin gesammelt hatte, an die Atmosphäre abgaben. Erdstoß benötigte diese Wasserdampfschicht, um sich vor den Strahlen von Mandel und Amarant zu schützen.
Wogegen der Planet sich nicht schützen konnte, waren die zunehmenden Gezeitenkräfte. Der Boden rings um die Seen begann zu reißen, aufzuspringen, sich zu heben und zu senken. Die Bedingungen verschlechterten sich stetig, während der Wagen dem Ort immer näher kam, an dem Graves und Perry J’merlia und Kallik gefunden hatten.
Perry kämpfte mit der Steuerung des Wagens, während er das tat, rasten seine Gedanken. Eine Landung unter diesen Bedingungen würde schwer werden. Wie lange würde es dauern, J’merlia und Kallik bei ihrem Schiff abzusetzen und dann wieder in die relative Sicherheit des Luftraums zurückzukehren? Und wenn dort keine Spur von Atvar H’sial und Louis Nenda war, konnten sie die beiden Sklaven wirklich an der Oberfläche des Planeten zurücklassen?
Weit mussten sie nicht mehr fliegen. In zehn Minuten würde er eine Entscheidung treffen müssen.
Und in dreißig Stunden würde der Gezeitensturm über Erdstoß hinwegbranden. Perry riskierte es, die Fluggeschwindigkeit ein wenig zu steigern.
Ein rötliches Licht erschien am Himmel vor ihm. Mit müden Augen betrachtete Perry es genauer.
War das Amarant, den man durch einen Riss in der Wolkendecke erkennen konnte? Bloß waren gar keine Wolken mehr zu sehen. Und die Stelle, an der er das Leuchten wahrnahm, lag zu tief, um der Himmel sein zu können.
Er starrte erneut hin, drosselte die Geschwindigkeit, bis sie nur noch zu kriechen schienen, bis er sich sicher sein konnte. Als er sich dann schließlich sicher war, wandte er sich in seinem Sessel um.
»Allianzrat Graves und J’merlia! Würden Sie bitte nach vorn kommen und mir Ihre Meinung dazu mitteilen?«
Es war eine reine Formalität. Perry brauchte keine zweite Meinung mehr zu hören. In den letzten Stunden hatte es in dieser Gegend immensen Vulkanismus gegeben. Genau dort, wo sie J’merlia und Kallik aufgelesen hatten, glomm die Oberfläche des Planeten jetzt von Horizont zu Horizont orangerot. Rauchende Lavaströme krochen durch ein schwarzes, lebloses Gelände, und nirgends, von Horizont zu Horizont, gab es einen Platz, an dem ein Flugwagen hätte landen können.
Perry erschauerte in geradezu urzeitlicher Ehrfurcht vor dem Schauspiel — und er war immens erleichtert.
Er musste keine einsame Entscheidung fällen. Erdstoß hatte sie ihm abgenommen. Sie konnten sofort die Sicherheit von ›Nabelschnur‹ suchen.
In Gedanken ging er bereits Berechnungen durch. Von ihrer aktuellen Position würden sie sieben Stunden lang fliegen müssen. Dazu noch eine kleine Sicherheitsspanne, für den Fall, dass sie irgendwelchen Stürmen würden ausweichen oder die Fluggeschwindigkeit würden verringern müssen, das machte dann alles in allem zehn Stunden. Und ihnen blieben noch achtzehn Stunden, bis ›Nabelschnur‹ sich von der Erdstoß-Oberfläche lösen würde.
Damit hatten sie ein Sicherheitspolster von acht Stunden. Mehr als reichlich Zeit also.