»Wir müssen es versuchen.« Während er weiterhin zu ›Nabelschnur‹ hinaufstarrte, glitt und rutschte Darya bereits über die Talkschicht, auf ihren Flugwagen zu. »Kommen Sie! Wenn wir es schaffen, unseren Wagen auf gleicher Höhe mit dem Vorfeld am Fuß des Stängels schweben zu lassen, dann können wir vielleicht hinüberspringen!«
Erstaunt lauschte sie ihren eigene Worten. War das wirklich Darya Lang, die gerade diesen Vorschlag machte? Zu Hause auf Wachposten-Tor mied sie sämtliche Höhen, und mit einem Schaudern hatte sie allen Freunden und der ganzen Familie erklärt, dass sie davor wirklich Angst habe. Anscheinend war alles im Universum relativ. Im Augenblick machte ihr die Vorstellung, von einem in der Luft schwebenden, beschädigten Flugwagen zu ›Nabelschnur‹ hinüberzuspringen, in einer Höhe von einem Kilometer oder mehr, nicht das Geringste aus.
Hans Rebka folgte ihr, doch nur, um sie am Arm zu packen und herumzuwirbeln. »Warten Sie einen Augenblick, Darya! Schauen Sie!«
Ein weiterer Flugwagen näherte sich von Nordwesten, knapp unterhalb der Wolkendecke. Er hatte gerade zur Landung angesetzt, bis der Pilot anscheinend sah, was gerade mit ›Nabelschnur‹ geschah. Dann ging der Wagen in Querneigung und begann dann langsam und schwerfällig, im Spiralflug wieder aufzusteigen.
Gleichzeitig jedoch stieg auch der Fuß des Stängels weiter hinauf, diesmal schneller. Die beiden Menschen auf der Oberfläche des Planeten starrten hilflos nach oben, während ›Nabelschnur‹ nach und nach in den Wolken verschwand, und der Flugwagen, der sich noch in der Luft befand, mühte sich, dem Artefakt zu folgen. Kurz bevor beide außer Sicht kamen, sah es sehr danach aus, als werde der Flugwagen das Wettrennen verlieren.
Nun wandte Darya sich wieder zu Hans Rebka um. »Aber wenn Graves und Perry sich dort auf dem Stängel befinden, wer sitzt dann in dem Flugwagen?«
»Das muss Max Perry sein! Ich habe mich getäuscht, als ich gesagt habe, er und Graves befänden sich auf ›Nabelschnur‹. Der Stängel zieht sich während des Gezeitensturms automatisch zurück, aber diesmal ist das eindeutig vorzeitig geschehen. Also wurde er umprogrammiert.« Dann schüttelte Rebka den Kopf. »Aber das ergibt auch keinen Sinn! Perry ist der Einzige, der die Codes von ›Nabelschnur‹ kennt.« Er sah, wie betroffen Darya plötzlich dreinblickte. »Oder nicht?«
»Nein.« Sie wandte den Blick ab. »Atvar H’sial kennt sie auch. Alle. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass wir auf diese Weise nach Opal gekommen sind. Das ist alles meine Schuld! Ich hätte mich niemals bereit erklären dürfen, mit ihr zusammenzuarbeiten! Jetzt sitzen wir hier fest, und die ist auf ›Nabelschnur‹ in Sicherheit!«
Hans Rebka blickte zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. »Das ist bestimmt so. Diese verdammte Cecropianerin! Während wir hierher geflogen sind, habe ich mich schon gefragt, ob die wohl immer noch auf Erdstoß ist. Und J’merlia wird bei ihr sein. Dann müssen in dem Flugwagen da oben also Perry und Graves sitzen.«
»Oder vielleicht diese Carmel-Zwillinge.«
»Nein. Die konnten nirgends an einen Flugwagen herankommen. Außerdem können wir jetzt aufhören zu spekulieren. Da kommt er zurück, der Flugwagen.«
Im Spiralflug tauchte der Flugwagen aus der Wolkendecke hinunter, suchte offensichtlich nach einem guten Landeplatz. Darya lief darauf zu und wedelte hektisch mit den Armen. Der Pilot sah sie und steuerte sein Gefährt vorsichtig näher an sie heran. Schließlich sackte der Flugwagen schwerfällig in kaum fünfzig Metern Entfernung auf den Boden, und mit seinen bodenwärts gerichteten Düsen erzeugte er einen kleinen Sandsturm.
Sodann öffnete sich die Luke des Wagens. Hans Rebka und Darya Lang schauten erstaunt zu, als zwei völlig identisch aussehende, völlig identisch gekleidete Menschen ausstiegen, gefolgt von einem Lo’tfianer und einem sehr staubig aussehenden Hymenopter. Als Letztes kamen dann Julius Graves und Max Perry.
»Wir haben gedacht, Sie wären tot!« — »Wir haben gedacht, Sie wären auf ›Nabelschnur‹.« — »Wo haben Sie die gefunden?« — »Wie sind Sie hierher gekommen?«
Perry, Rebka, Lang und Graves sprachen gleichzeitig aufeinander ein, sie standen in einem kleinen Kreis vor der Einstiegsluke des Flugwagens. Die beiden Nichtmenschen und die Carmel-Zwillinge hielten sich abseits, sie blickten sich in der trostlosen Umgebung um.
»Keine aktiven Radio-Funkfeuer — wir haben die ganze Strecke hierher darauf geachtet«, fuhr Graves fort. Er starrte Darya Lang an. »Haben Sie eine Ahnung, was mit Atvar H’sial geschehen ist?«
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube, sie ist dort auf ›Nabelschnur‹.«
»Nein, das ist sie nicht. Niemand ist dort. Wir haben ›Nabelschnur‹ nicht mehr einholen können, aber wir haben gesehen, dass keine einzige Kapsel gerade in Gebrauch ist. Und jetzt ist ›Nabelschnur‹ auch außerhalb der Reichweite von Flugwagen. Aber was ist mit Ihnen? Ich dachte, Atvar H’sial hätte Sie irgendwo auf der Oberfläche ausgesetzt?«
»Hat sie auch. Hans Rebka hat mich gerettet. Aber Atvar H’sial muss die Absicht gehabt haben, wieder zurückzukommen und mich zu holen, schließlich hat sie mir Vorräte und eine Notbake dagelassen.«
»Nein, hat sie nicht. Das war J’merlia.« Graves deutete auf den Lo’tfianer. »Er hat gesagt, dass Atvar H’sial ihm nicht verboten habe, Ihnen zu helfen; also hat er genau das getan. Er hat sich große Sorgen um Ihre Sicherheit gemacht, nachdem die beiden Sie zurückgelassen hatten. Er meinte, Sie schienen für ein Überleben auf Erdstoß nur sehr unzureichend ausgestattet. Aber dann hat er gedacht, Sie müssten ohnehin schon tot sein, weil wir, als wir danach suchten, keinerlei Spur Ihres Funkfeuers mehr entdecken konnten. Ich bin mir sicher, dass Atvar H’sial nicht die Absicht hatte, jemals wieder nach Ihnen zu schauen. Sie sollten auf Erdstoß den Tod finden.«
»Aber wo ist Atvar H’sial jetzt?«, fragte Rebka.
»Genau diese Frage haben wir gerade Ihnen gestellt!«, bemerkte Perry. »Sie muss bei Louis Nenda sein.«
»Nenda!«
»Der ist mit seinem eigenen Schiff hierher gekommen«, sagte Graves. »Und wussten Sie, dass er mit einem Cecropianer auch direkt sprechen kann, ohne Übersetzer? Kallik hat J’merlia erzählt, dass Nenda über eine Zardalu-Erweiterung verfügt, die es ihm ermöglicht, Pheromon-Kommunikation zu betreiben. Atvar H’sial und er haben J’merlia und Kallik zurückgelassen und sind dann allein irgendwohin aufgebrochen.«
»Wir glauben, dass sie wegen ›Nabelschnur‹ gekommen sind. Atvar H’sial hatte Hilfe. Irgendwie ist es ihr gelungen, an die Steuersequenzen zu kommen, und dann hat sie ›Nabelschnur‹ so eingestellt, dass sie sich diesmal früher von der Oberfläche zurückzieht.« Hans Rebka warf Darya Lang einen ›Sag-jetzt-nichts‹-Blick zu und sprach dann weiter. »Sie will, dass wir alle hier sterben, während des Gezeitensturms auf Erdstoß gestrandet. Deswegen hat sie auch J’merlia und Kallik zurückgelassen — sie wollte keine Zeugen.«
»Aber wir haben deren Notsignal aufgefangen und die beiden an Bord genommen.« Perry nickte in Richtung der beiden Nichtmenschen, die sich immer noch schweigend umblickten. »Ich glaube, Nenda und H’sial mochten vielleicht die Absicht gehabt haben, die beiden später noch abzuholen, doch sie wären auf jeden Fall zu spät gekommen. Das gesamte Gebiet, in dem man hätte landen können, bestand nur noch aus geschmolzener Lava. Wir mussten J’merlia und Kallik bei uns behalten.«
»Aber wenn Nenda es geschafft hat, zu seinem eigenen Schiff zurückzukommen«, merkte Graves an, »dann können Atvar H’sial und er diesen Planeten immer noch verlassen.«
»Und damit geht es denen deutlich besser als uns.« Nach seiner ersten Niedergeschlagenheit war Rebka jetzt wieder ganz der Alte, voller Energie. »›Nabelschnur‹ ist fort und kommt auch erst nach dem Gezeitensturm zurück. Wir haben nur einen einzigen Flugwagen für uns alle — unserer hat den Geist aufgegeben, endgültig, kaum dass wir hier angekommen sind. Außerdem können Flugwagen sowieso nicht bis in den Orbit aufsteigen, also helfen die uns auch nicht weiter. Commander Perry, wir benötigen langsam einen Plan, wie man hier überleben kann! Wir sitzen hier auf Erdstoß fest, bis ›Nabelschnur‹ wieder zurückkehrt.«