»Darf ich es noch einmal wiederholen, ja? Das ist unmöglich!« Perry sprach sehr leise, doch seine Stimme klang so erbittert, dass sie mehr Wucht besaß, als wenn er gebrüllt hätte. »Ich habe das jedem Einzelnen von Ihnen klarzumachen versucht, seit Sie in das Dobelle-System gekommen sind: Menschen können einen Gezeitensturm auf der Oberfläche von Erdstoß nicht überleben! Nicht einmal einen ganz normalen Gezeitensturm. Ganz gewiss nicht diesen Gezeitensturm! Egal, wie Sie darüber denken mögen, es gibt keinen ›Plan, wie man überleben kann‹ — nichts kann uns mehr retten, wenn wir auf Erdstoß bleiben. Hier ist es im Augenblick ziemlich ruhig, und ich weiß nicht, warum das so ist. Aber das kann nicht mehr lange so weitergehen. Und dann wird jeder, der sich noch auf der Oberfläche von Erdstoß befindet, den Tod finden.«
Als hätte der Planet ihn gehört, folgten auf seine Worte ein Dröhnen in der Ferne und das Stöhnen emporgeschleuderten Erdreichs und berstender Felsen. Wenige Augenblicke später ließ eine ganze Reihe heranbrandender Schockwellen die Luft selbst flirren und den Boden unter ihren Füßen erzittern. Alle blickten sich um, dann liefen sie instinktiv zum Flugwagen hinüber und krochen in den Fahrgastraum, um wenigstens die Illusion von Sicherheit zu finden.
Darya Lang, die Letzte, die einstieg, betrachtete die sieben, die vor ihr an Bord geklettert waren.
Das war nicht gerade die vielversprechende Mischung von Individuen, die einen hoffen ließ, noch in letzter Sekunde einen Plan schmieden zu können, der sie alle doch noch würde überleben lassen. Die beiden Carmel-Schwestern wirkten wie Menschen, die bereits jetzt aufgegeben hatten und innerlich gebrochen waren. Sie hatten auf Erdstoß schon zuviel durchgemacht; von jetzt an würden sie nur noch genau das tun, was man ihnen auftrug. Graves und Perry waren verdreckt und wirkten im Ganzen recht mitgenommen, ihre Kleidung war zerfetzt und zerknautscht und mit Schmutz, Staub und Schweiß bedeckt. Beide hatten blutige, offensichtlich entzündete Wunden an den Waden, Graves hatte dazu auch noch eine Reihe schorfiger Verletzungen auf seinem kahlen Schädel. Und was noch schlimmer war: Er war viel zu fröhlich, grinste alle anderen an, als hätte er kein einziges persönliches Problem mehr. Vielleicht war das ja auch so. Falls es irgendjemanden gab, der sie vielleicht noch würde retten können, war das Max Perry, Julius Graves fiel als Retter in der Not völlig aus. Doch nach dieser düsteren Prognose, die Perry gerade eben gemacht hatte, war er jetzt in brütendes, introvertiertes Schweigen verfallen; er schien irgendetwas zu sehen, was allen anderen hier verborgen blieb.
J’merlia und Kallik wirkten recht normal — das aber auch nur, weil Darya nicht wusste, wie man in der Körpersprache derart fremdartiger Wesen Anzeichen von Stress oder von Verletzungen würde lesen können. Sorgsam entfernte J’merlia mithilfe der weichen Pfoten seiner vorderen Gliedmaßen den weißen Staub, der seine Beine bedeckte. Er schien sich über wenig Gedanken zu machen, von persönlicher Hygiene einmal abgesehen. Nachdem Kallik sich einmal schnell geschüttelt und auf diese Weise eine beträchtliche Menge Staub von ihrem Körper entfernt und mit Schwung auf die restlichen, lautstark protestierenden Insassen des Flugwagens verteilt hatte, richtete sie sich zu ihrer ganzen Körpergröße auf und betrachtete alles und jeden mit ihrer leuchtend roten Augen. Wenn es noch irgendjemanden gab, der eine Spur von Optimismus empfand, dann vielleicht das kleine Hymenopter-Weibchen. Bedauerlicherweise vermochte nur J’merlia mit ihr zu kommunizieren.
Darya blickte zu Hans Rebka hinüber. Er war offensichtlich erschöpft, doch er war immer noch ihr größter Hoffnungsträger. Er hatte tiefe, rote Male im Gesicht — Abdrücke, die seine Maske und sein Atemfilter hinterlassen hatten —, und rings um die Augen hatte er eulenartige, bleiche Staubkreise. Doch als er bemerkte, dass sie ihn anschaute, brachte er immer noch ein Grinsen und ein Augenzwinkern zustande.
Darya quetschte sich in das Innere des Flugwagens und hatte gerade noch genügend Platz, hinter sich die Luke zuzuschieben. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, so viele Personen, ob nun Menschen oder Nichtmenschen, in einem kleinen Flugwagen zusammengedrängt zu sehen. Offiziell war ein Flugwagen für nicht mehr als vier Passagiere zugelassen. Die Carmel-Zwillinge hatten es geschafft, sich gemeinsam in einen Sitz zu zwängen, doch J’merlia kauerte auf dem Boden, wo er nur wenig sehen oder hören konnte, und Darya Lang und Max Perry hatten nicht einmal einen Sitzplatz ergattert.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte Rebka unerwarteterweise. »Ich meine, wie viele Stunden noch bis zum Gezeitensturm?«
»Fünfzehn.« Perrys Stimme war absolut ausdruckslos.
»So, und was kommt jetzt als Nächstes? Wir können nicht einfach nur hier herumsitzen und darauf warten, dass wir sterben. Alles ist besser als das! Gehen wir doch einmal unsere Möglichkeiten durch: Wir können ›Nabelschnur‹ nicht erreichen, selbst wenn diese sich nicht noch weiter ins All zurückzieht. Und es gibt keinen Ort auf Erdstoß, an dem wir sicher wären. Angenommen, wir steigen mit dem Wagen hier so hoch auf, wie es nur irgend geht, und versuchen, den ganzen Gezeitensturm in der Luft auszusitzen?«
Kallik stieß eine Reihe schnaubender Pfeiflaute aus, die sich für Darya Lang deutlich nach Spott anhörten, während Perry sich aus seinen Träumereien riss und langsam den Kopf schüttelte. »Ich bin all diese Ideen auch schon durchgegangen, vor langer, langer Zeit«, erklärte er düster. »Der Flugwagen hat noch genug Energie für acht Stunden, und das gilt nur für normale Last. Wenn wir abheben — und es ist noch nicht einmal klar, dass wir das überhaupt schaffen, so überladen wie wir sind — werden wir wieder runtergehen müssen, bevor der Gezeitensturm überhaupt seinen Höhepunkt erreicht.«
»Und wenn wir jetzt hier bleiben und warten, bis es zum Gezeitensturm-Höhepunkt nur noch vier oder fünf Stunden sind«, schlug Perry vor, »und erst dann abheben? Dann wären wir zumindest von der Oberfläche fort, solange es am schlimmsten ist.«
»Tut mir leid, das wird auch nicht funktionieren.« Perry starrte Kallik an, die jetzt unruhig auf und ab sprang und dabei Klick- und Pfeiflaute ausstieß. »Wir werden es niemals schaffen, uns in der Luft zu halten. Die Vulkane und die Erdbeben verwandeln die ganze Atmosphäre in eine einzige, gewaltige Turbulenz.« Er wandte sich dem Lo’tfianer zu. »J’merlia, sag Kallik, sie soll still sein! Auch ohne diesen zusätzlichen Lärm fällt es mir so schon schwer genug nachzudenken.«
Der Hymenopter sprang noch höher und pfiff: »Sch-sch-Schief!«
»Kallik hat mich gebeten, Sie bei allem Respekt darauf hinzuweisen«, sagte J’merlia, »dass Sie alle das Schiff vergessen.«
»Louis Nendas Schiff?«, fragte Rebka. »Das, mit dem Kallik hierher gekommen ist? Wir wissen nicht, wo es sich befindet. Und außerdem werden das Nenda und Atvar H’sial haben.«
Kallik stieß eine noch lautere Folge schriller Pfeiflaute aus und wand den Leib, als erlitte sie körperliche Schmerzen.
»Nein, Nein. Kallik merkt ergebenst an, dass sie von der Sommer-Traumschiff spricht, dem Schiff, mit dem die Carmel-Zwillinge nach Erdstoß kamen. Wir wissen genau, wo dies sich befindet.«
»Aber die Energiezelle für den Antrieb ist leer«, entgegnete Perry. »Vergiss nicht, Kallik hat ihn sich doch angeschaut, gleich als wir es gefunden hatten!«
»Einen Augenblick bitte.« J’merlia drängte sich an Julius Graves und den Carmel-Zwillingen vorbei und kauerte sich dann neben das Hymenopter-Weibchen. Eine halbe Minute lang grunzten und pfiffen die beiden einander an. Schließlich nickte J’merlia heftig und richtete sich wieder auf.