»Kallik entschuldigt sich bei allen Anwesenden für ihre außerordentliche Dummheit; aber sie drückte sich nicht deutlich genug aus, als sie das Schiff untersuchte. Die Energiezelle des Bose-Antriebs ist gewiss aufgebraucht, und für interstellare Flüge ist das Schiff nicht einsetzbar. Aber es mag noch genügend Energie für eine kurze Fahrt übrig sein — vielleicht für einen Sprung in den Orbit.«
Rebka drängte sich an Julius Graves vorbei zum Pilotensitz, bevor J’merlia auch nur seinen Satz zu Ende gebracht hatte. »Wie weit ist es bis zu diesem Raumschiff, und wo ist es?« Er überprüfte bereits die Statusanzeigen des Flugwagens.
»Siebentausend Kilometer, auf einer Großkreisroute zur Pentacline-Senke.« Perry hatte seinen Trübsinn abgeschüttelt, drängte sich jetzt ebenfalls an den Carmel-Zwillingen vorbei und stellte sich neben Rebka. »Aber so kurz vor dem Gezeitensturm müssen wir die ganze Zeit über mit Seitenwinden rechnen, sehr stark und immer weiter zunehmend. Das dürfte uns mindestens eintausend weitere Kilometer Flug kosten!«
»Also bleibt kein bisschen Spielraum.« Schnell führte Rebka einige Berechnungen durch. »Wir haben genug Energie für etwa achttausend Kilometer, aber nicht, wenn wir mit Höchstgeschwindigkeit fliegen. Und wenn wir langsamer fliegen, dann kommen wir dem Höhepunkt des Gezeitensturms noch näher, und die Bedingungen verschlechtern sich immer weiter.«
»Das ist die beste Chance, die wir haben.« Zum ersten Mal, seit er an Bord des Flugwagens gekommen war, hatte Graves das Wort ergriffen. »Aber können wir mit einer derartigen Last überhaupt abheben? Wir hatten schon Schwierigkeiten, überhaupt hierher zu kommen, und da waren noch zwei Personen weniger an Bord.«
»Und können wir uns überhaupt in der Luft halten, so kurz vor dem Gezeitensturm?«, fügte Perry hinzu. »Der Wind wird unglaublich sein!«
»Und selbst wenn Kallik recht haben sollte«, fuhr Graves fort, »und das Schiff wirklich noch ein wenig Energie hat, kann es die Sommer-Traumschiff denn bis zum Orbit schaffen?«
Doch Rebka aktivierte bereits den Antrieb. »Das ist nicht die beste Chance, die wir haben, Allianzrat«, sagte er, während die Vertikaldüsen eine weiße Staubwolke aufwirbelten, die sämtliche Fenster verdüsterte. »Das ist die einzige Chance, die wir haben. Was wollen Sie denn, einen Garantieschein? Setzen Sie sich hin und halten Sie die Luft an! Wenn mir nicht jemand innerhalb der nächsten fünf Sekunden einen besseren Vorschlag macht, werde ich aus diesem Wagen das Letzte herausholen. Alle festhalten, und dann hoffen, dass der Antrieb mitspielt!«
20
Gezeitensturm minus eins
Als der Flugwagen schlingernd vom Boden abhob und dann quälend langsam darum kämpfte, an Höhe zu gewinnen, fühlte Darya Lang sich völlig nutzlos. Sie war überschüssige Fracht, ein nutzloses zusätzliches Gewicht, das weder dem Piloten noch dem Navigator vorne in der ersten Sitzreihe des Flugwagens helfen konnte. Sie war unfähig, etwas Sinnvolles zu tun, sie war unfähig, sich zu entspannen, und so schaute sie sich die anderen Passagiere erneut an.
Das war also die Gruppe, die entweder zusammen überleben oder zusammen den Tod finden würde — und das schon bald, bevor diese rotierende Hantel aus Erdstoß und Opal eine weitere Umdrehung abgeschlossen hätte.
Darya betrachtete ihre Schicksalsgenossen, während der Flugwagen dröhnend weiterflog. Sie machten einen deprimierten und einen deprimierenden Eindruck. Die Lage, in der sie sich befanden, schien die Zeit zurückgedreht zu haben, und nun sah Lang sie so, wie sie selbst vor Jahren gewirkt haben musste: bevor Erdstoß in ihr Leben getreten war.
Elena und Geni Carmel, die Wange an Wange dort saßen, waren kleine Mädchen, die sich verlaufen hatten. Unfähig, auf eigene Faust den Weg zu finden, der aus dem Wald herausführte, warteten sie darauf, gerettet zu werden; oder, was sehr viel wahrscheinlicher war, sie warteten auf das Monster, das sie jetzt bald holen käme. Vor ihnen war Hans Rebka konzentriert über die Instrumente gebeugt, ein kleiner, besorgter Junge, der ein Spiel spielen wollte, für das er noch zu klein war. Daneben saß Max Perry, versunken, verloren, in einem alten, traurigen Traum, den er mit niemand anderem teilen wollte.
Nur Julius Graves, der zu Perrys Rechten saß, passte nicht zu diesem Schema der zurückgedrehten Uhr. Wann immer das Ratsmitglied sich zum Heck des Flugwagens umdrehte, sah Darya, dass sein Gesicht niemals jung gewesen war. Tausende von Jahren des Elends standen in die Falten und in die ungleichmäßige Haut seines Gesichts geschrieben; die ganze Geschichte der Menschheit, düster, zornig und verzweifelt.
Verwirrt und bestürzt starrte sie ihn an. Das war nicht das legendäre Ratsmitglied der Allianz. Wo war die Freundlichkeit, der Optimismus, die sprühende, manische Energiegeladenheit?
Sie kannte die Antwort auf diese Frage: erstickt, ausgelöscht, einfach vor Erschöpfung.
Zum ersten Mal begriff Darya, wie sehr sich Ermüdung auf Entscheidungen auswirken konnte, die die gesamte Menschheit betrafen. Sie hatte bemerkt, wie nach und nach ihr eigenes Interesse daran, das Rätsel um Erdstoß und die Baumeister zu lösen, nachgelassen hatte, und sie hatte das der Tatsache zugeschrieben, dass sie sich auf das nackte Überleben hatte konzentrieren müssen. Doch jetzt schob sie die Schuld auf die enervierenden Gifte ›Erschöpfung‹ und ›Anspannung‹.
Der gleiche Energieverlust machte ihnen allen zu schaffen. Zu einem Zeitpunkt, da rasches Denken und zügiges Handeln den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnte, waren sie alle geistig und körperlich völlig ausgebrannt. Jeder Einzelne von ihnen — und sie selbst war gewiss keine Ausnahme — sah aus wie ein Zombie. Einige Sekunden lang mochten sie zu ihrer alten Form, ihrer Geistesgegenwart und Konzentration zurückkehren können, so wie es ihr im Augenblick des Starts ergangen war; doch sobald die Panik abgeebbt war, versanken sie alle wieder in Lethargie. Die Gesichter, die sie vor sich sah, waren, selbst wenn man den ganzen weißen Staub abgewaschen hätte, bleich und ausgezehrt.
Darya wusste nur zu genau, wie die anderen sich fühlten. Ihre eigenen Emotionen lagen wie auf Eis. Sie konnte kein Entsetzen mehr empfinden, keine Liebe, keinen Zorn. Das war die schlimmste aller Entwicklungen, diese neuartige Gleichgültigkeit dem Leben oder Sterben gegenüber. Es war ihr fast egal, was nun als Nächstes geschehen würde. Im Verlauf der letzten Tage hatte Erdstoß sie nicht mit all seiner Urgewalt zu Boden geschleudert; doch der Planet hatte sie ausgelaugt, ihr jegliche menschlichen Leidenschaften geraubt.
Selbst die beiden Nichtmenschen hatten ihren sonst üblichen Schwung verloren. Kallik hatte einen kleinen Computer hervorgeholt und war jetzt ganz in ihre eigenen Berechnungen versunken. Ohne Atvar H’sial wirkte J’merlia völlig verloren und verwirrt. Ständig wandte er den Kopf um, als suche er seine verlorene Meisterin, und rieb sich immer und immer wieder mit den Hand-Klauen über den hart gepanzerten Leib.
Perry, Graves und Rebka hatten sich gemeinsam in die vorderste Reihe gequetscht — gedacht war die Sitzreihe nur für zwei Personen. Die Zwillinge und J’merlia saßen hinter ihnen, wahrscheinlich bequemer als jeder andere an Bord, während Darya Lang und Kallik sich in die freie Fläche hinter den Sitzreihen gezwängt hatten, die eigentlich nur für Gepäckstücke gedacht war. Für das Hymenopter-Weibchen war es auch geräumig genug, nur hatte Kallik die Angewohnheit, sich reflexartig wie ein nasser Hund zu schütteln, um sich restlichen Staub aus dem kurzen schwarzen Fell zu entfernen. Sie brachte Darya ständig zum Niesen. Außerdem musste die bisher eigentlich Komfort gewöhnte Bewohnerin von Wachposten-Tor die ganze Zeit über den Kopf nach vorn geneigt halten, um nicht gegen das gerundete Dach des Flugwagens zu stoßen.