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Das Schlimmsten von allem war, dass diejenigen, die weiter hinten saßen, im Frontfenster nur einen winzigen Ausschnitt des Himmels erkennen konnten. Jegliche Informationen darüber, wie sie vorankamen oder ob es irgendwelche Probleme gab, erhielten sie nur durch die Warnungen und die Kommentare derer, die weiter vorne saßen.

Und manchmal kamen die Warnungen auch zu spät.

»’tschuldigung!«, rief Perry, zwei Sekunden, nachdem der Wagen von einem gewaltigen Windstoß umhergewirbelt, zur Seite geneigt und fünfzig Meter weit in die Tiefe gerissen worden war. »Der war ganz übel!«

Darya Lang rieb sich den Hinterkopf und gab Perry recht. Sie war gegen die Hartplastikdecke des Frachtraums gekracht. Sie würde eine mächtige Beule bekommen — vorausgesetzt, sie lebte überhaupt lange genug.

Darya beugte sich vor und stützte den Kopf auf die Arme. Trotz des Lärms, der Gefahr, der Unsicherheit und der Übelkeit erregenden Unvorhersagbarkeit ihrer Bewegungsrichtung begannen ihre Gedanken ziellos umherzuwandern. Ihr bisheriges Leben als Archäo-Wissenschaftlerin auf Wachposten-Tor erschien ihr auf einmal wie ein Leben im Elfenbeinturm. Wie oft hatte sie, während sie den Lang-Katalog zusammengestellt hat, in aller Ruhe ganze Expeditionen abgeschrieben: ›Keine Überlebenden‹. Das war eine hübsche, saubere Formulierung, die keinerlei Erklärung erforderte, keinerlei Mitdenken. Das, was dabei eindeutig fehlte, das war die Tragik, die mit diesem Ereignis zusammenhing, und die unendliche, subjektiv empfundene Zeit, die es gedauert haben mochte, bis der Tod dann endlich gekommen war. Diese Formulierung ›Keine Überlebenden‹ ließ vermuten, dass der Tod schnell, sauber gekommen war, dass eine Gruppe so schnell und so gleichmütig ausgelöscht worden war wie eine Kerzenflamme. Es war sehr viel wahrscheinlicher, dass sich Dinge abgespielt hatten, wie Darya sie jetzt selbst erlebte: ein langsames Erlöschen jeglicher Hoffnung, während die Gruppe jede nur erdenkliche Chance zu ergreifen versuchte und bei jedem Versuch bemerken musste, dass nichts half.

Daryas Mut sank immer weiter. Der Tod kam nur selten schnell, sauber und schmerzlos, es sei denn, er käme zugleich auch überraschend. Meistens war er langsam, unerträglich schmerzhaft und entwürdigend.

Eine ruhige Stimme riss sie aus ihrer erschöpften Verzweiflung.

»Achtung dahinten!« Hans Rebka klang alles andere als besiegt und dem Untergang geweiht. »Wir sind zu tief, und wir sind zu langsam. Wenn wir so weitermachen, haben wir bald weder Energie noch Zeit. Wir müssen also über diese Wolkendecke kommen. Das heißt: nochmal festhalten! Jetzt kommen ein paar harte Minuten!«

Woran denn festhalten? Doch Rebkas Worte und sein ungebrochen forscher Tonfall verrieten Darya, dass noch nicht alle aufgegeben hatten.

Sie schämte sich vor sich selbst und versuchte sich noch tiefer in das Gepäckabteil zu zwängen, als der Wagen sich rüttelnd und schüttelnd seinen Weg durch die unruhige Unterseite der Wolkendecke zu bahnen suchte. Das von Strukturen durchzogene Leuchten, das durch die Frontscheibe fiel, wurde durch eintöniges, schlammiges Licht ersetzt. Sofort setzten noch heftigere Turbulenzen ein, sie peitschten den Wagen von allen Richtungen gleichzeitig, und schleuderten das überladene Fahrzeug mühelos und sorglos durch den Himmel, als wäre es aus Papier. Was auch immer Perry und Rebka an den Instrumenten versuchten, der Wagen war einfach zu schwer, als dass er sich noch gut hätte manövrieren lassen.

Darya versuchte, die nächste Bewegung, die der Wagen machen würde, abzuschätzen, und scheiterte kläglich. Sie wusste nicht, ob ihr Gefährt noch steigen, ob es gerade in den Sinkflug ging oder ob es gleich abstürzen würde. Von allen Seiten schienen Zubehörteile der Decke auf sie einzuprasseln oder einzuschlagen. Gerade, als sie sich sicher war, der nächste Treffer werde sie gewiss bewusstlos schlagen, erfassten vier mehrgliedrige Arme sie um die Taille. Sie streckte die Arme aus, spürte einen weichen, gedrungenen Leib und klammerte sich verzweifelt daran fest, während der Wagen hin und her geschleudert wurde, und wie von Krämpfen geschüttelt durch die Wolken raste.

Kallik schob sie vorwärts, drängte sie gegen die Wandung. Darya vergrub ihr Gesicht in dem samtweichen Fell, stemmte die Beine nach rechts und erwiderte den Druck. Gegeneinander und gegen die Wandung des Fliegers gestützt, fanden Kallik und sie gemeinsam eine neue, stabilere Position. Darya klammerte sich noch enger an den Hymenopter und fragte sich, ob dieser unruhige Flug wohl jemals ein Ende finden würde.

»Wir sind fast da. Schützt eure Augen!« Rebkas Stimme erklang über das Intercom der Kabine, nur einen kurzen Augenblick, bevor die ruckartigen Sturzflüge und das plötzliche Wiederhochziehen, das einem den Magen umdrehen konnte, endeten. Als der Flug sich wieder beruhigt hatte, durchflutete gleißendes Licht die Kabine; das diffuse, rotbraune Glimmen war verschwunden.

Darya hörte gluckernde Schnaublaute zu ihrer Rechten. J’merlia wand sich in seinem Sitz so, dass er in das Heck des Wagens blicken konnte.

»Kallik bittet ergebenst um Verzeihung«, sagte er, »für das, was sie getan hat. Sie versichert Ihnen, dass sie unter normalen Umständen niemals wagen würde, den Leib einer überlegenen Person zu berühren. Und sie fragt sich, ob Sie sie wohl jetzt freundlicherweise loslassen würden.«

Darya bemerkte, dass sie sich immer noch an dem weichen, schwarzen Fell festklammerte und den Hymenopter mit ihrer Umarmung zu erdrücken drohte. Sofort ließ sie los, es war ihr sehr peinlich. Das Hymenopter-Weibchen war viel zu taktvoll, Daryas Verhalten zu kommentieren; doch da war eindeutig blanke Panik in Kalliks Blick.

»Sag Kallik, es war gut, dass sie mich festgehalten hat. Das, was sie getan hat, hat sehr geholfen, und eine Entschuldigung ist nicht erforderlich.« Und wenn ich eine überlegene Person bin, fügte sie in Gedanken hinzu, dann möchte ich gar nicht wissen, wie sich eine unterlegene Person fühlt.

Ob nun peinlich berührt oder nicht, Darya begann sich ein wenig besser zu fühlen. Der Flug war jetzt deutlich gleichmäßiger, während das Heulen der vorbeistreifenden Luft vermuten ließ, dass sie sich jetzt auch sehr viel schneller bewegten. Selbst Daryas Schmerzen und ihre Müdigkeit hatten ein wenig nachgelassen.

»Wir haben unsere Fluggeschwindigkeit nahezu verdoppelt, und hier oben sollte es jetzt eine ruhige Fahrt sein.« So wie Rebkas Stimme über das Intercom klang, schien Daryas Stimmungsumschwung durchaus berechtigt zu sein.

»Aber es war ziemlich hart, durch diese Wolkendecke zu kommen«, fuhr er dann fort. »Und Commander Perry hat unseren Energieverbrauch neu berechnet. Angesichts der Strecke, die wir noch zurücklegen müssen, steht es jetzt auf Messers Schneide. Wir müssen Energie sparen. Ich muss ein wenig abbremsen und die Klimaanlage deaktivieren. Dadurch wird es hier vorne ziemlich unangenehm werden. Machen Sie sich bereit, Ihre Sessel herumzudrehen, und sorgen Sie dafür, dass Sie genug trinken!«

Darya Lang war gar nicht auf die Idee gekommen, die Tatsache, dass sie nur einen sehr begrenzten Ausschnitt des Himmels sehen konnte, könne für sie in irgendeiner Weise von Vorteil sein. Doch als die Innentemperatur des Wagens zu steigen begann, war sie sehr froh darüber, im abgeschirmten Heck des Wagens zu sitzen. Die Leute, die vor ihr saßen, hatten mit der gleichen stickigen Luft zu kämpfen, waren dabei aber auch noch dem direkten, unerträglich heißen Sonnenlicht ausgesetzt.

Was die, die vorne saßen, tatsächlich zu durchleiden hatten, begriff sie erst, als es Zeit wurde, ›die Reise nach Jerusalem‹ zu spielen und wechselseitig alle Plätze im beengten Fahrgastraum zu besetzen. Allein schon der Platzwechsel war eine Aufgabe, die eigentlich nur Schlangenmenschen hätten bewältigen können. Als es schließlich gelungen war, hatte Darya einen der vorderen Sitze ergattert, gleich neben dem Fenster. Zum eisten Mal seit dem Start konnte sie mehr sehen als nur einen winzigen Ausschnitt dessen, was rings um den Wagen geschah.