Sie flogen jetzt ein wenig oberhalb der Wolkendecke jagten über vereinzelte Wolkenkämme hinweg, die das Licht einfingen und brachen. Auf diese Weise entstand der Eindruck, sie segelten über die hohen Wellen einer goldenen und karmesinroten See. Mandel und Amarant lagen beide fast schnurgerade voraus, sie brannten auf den Wagen herab, mit einer Urgewalt, die Darya auf den durch die Wolken geschützten Oberflächen von Opal und Erdstoß noch nie erlebt hatte. Die beiden Sterne waren jetzt zu riesenhaften, gleißenden Kugeln angewachsen, die vor einem fast schwarzen Himmel standen. Selbst mit der maximalen Photoabschirmung des Wagens waren die roten und gelben Lichtspeere, die diese stellaren Partner von sich schleuderten, zu grell, als das man sie hätte direkt anblicken können.
In Strömen lief Darya der Schweiß über das Gesicht und durchfeuchtete ihre gesamte Kleidung. Sie konnte zusehen, wie Mandel und Amarant ihre Positionen am Himmel veränderten. Alles ging hier schneller und schneller. Darya spürte regelrecht das gehetzte Tempo, mit dem sich die Ereignisse überschlugen, als die Zwillingssonnen und das Dobelle-System dem Punkt ihrer größten Annäherung aneinander entgegeneilten.
Und die Insassen des Flugwagens waren nicht die einzigen Teilnehmer an diesem Spiel.
Mit zusammengekniffenen Augen schaute Darya zur Seite. Dort war Gargantua, ein blasses Abbild von Mandel und seinem Zwergsternbegleiter. Doch auch das würde sich bald ändern. Schon bald würde Gargantua das größte Objekt am Himmel von Erdstoß sein, würde näher kommen als irgendetwas sonst in diesem System und mit seinen alles zerstörenden Gezeitenkräften auch Mandel und Amarant Konkurrenz machen.
Darya blickte in Richtung des Planeten selbst in die Tiefe hinab und fragte sich, was wohl unter dieser wallenden Wolkendecke geschah. Schon bald würden sie diese Decke durchstoßen müssen; doch vielleicht war die Oberfläche, die darunter verborgen war, schon längst zu sehr geborsten, als dass man dort noch hätte landen können. Oder vielleicht war das Schiff, das sie suchten, bereits verschwunden, verschluckt von einer gewaltigen Erdspalte, die sich gerade erst aufgetan hatte.
Darya wandte den Blick vom Fenster ab und schloss die schmerzenden Augen. Das grelle Gleißen dort draußen war einfach zu viel. Sie konnte die Hitze und die alles verbrennende Strahlung keine Sekunde länger aushalten.
Bloß hatte sie gar keine andere Wahl.
Sie blickte nach links. Dort saß Kallik, dicht an den Boden gekauert. Vor ihr, im Sitz des Piloten, hielt Max Perry sich ein kleines Quadrat aus halb durchsichtigem Plastik vor die Augen, um sein Gesicht wenigstens etwas vor dieser Lichtflut zu schützen.
»Wie lange noch?« Die Frage war nur noch ein mattes Krächzen.
Darya erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. Sie wusste auch nicht genau, was zu erfahren sie mit ihrer Frage eigentlich beabsichtigt hatte. Meinte sie: Wie lange dauert es noch, bis sie alle wieder die Plätze tauschen konnten? Oder bis sie ihr Ziel erreicht haben würden? Oder bis sie alle tot waren?
Es war egal. Perry antwortete ihr nicht. Er reichte ihr lediglich eine Flasche mit lauwarmem Wasser. Sie nahm einen kleinen Schluck, gerade genug, um den Mund umzuspülen, dann half sie Kallik dabei, es ihr gleichzutun. Und dann gab es nichts mehr zu tun, außer dort zu sitzen und zu schwitzen und das Lebendigsein zu ertragen, bis endlich als willkommene Abwechselung ein neuerlicher Wechsel der Sitzplätze anstand.
Darya verlor jegliches Zeitgefühl. Sie wusste gerade noch, dass sie mindestens dreimal in dem Folterstuhl in der vorderen Reihe gesessen hatte. Es fühlte sich an, als wären sie schon seit Wochen an Bord des Flugwagens, als Julius Graves sie schließlich schüttelte und sie warnte: »Machen Sie sich auf ein paar Turbulenzen gefasst! Wir gehen jetzt durch die Wolkendecke!«
»Sind wir da?«, flüsterte sie. »Dann nichts wie runter!«
Sie konnte es kaum noch erwarten. Was auch immer als Nächstes geschehen mochte, sie würde auf jeden Fall dieser Brandfolter der zwei Sonnen entkommen. Den Rest ihres Lebens würde sie davon Albträume haben.
»Nein. Noch nicht da.« Graves klang genauso, wie sie sich fühlte. Er tupfte sich den Schweiß von seinem kahlen Schädel. »Uns geht die Energie aus.«
Das weckte wirklich ihre Aufmerksamkeit. »Wo sind wir denn?«
Doch er hatte sich bereits abgewandt. Es war Elena Carmel, in ihrem Sitz hinter ihr, die sich nun vorbeugte und ihr die Antwort gab. »Wenn die Instrumente richtig sind, dann sind wir sehr nah dran. Fast bei unserem Schiff.«
»Wie nah?«
»Zehn Kilometer. Vielleicht sogar noch weniger. Sie sagen, das hängt alles davon ab, wie viel Energie noch übrig ist, um in den Luftkissen-Modus zu gehen.«
Darya schwieg. Zehn Kilometer, fünf Kilometer, was machte das schon für einen Unterschied? Sie konnte keinen einzigen Kilometer mehr gehen, selbst wenn ihr Leben davon abhinge.
Doch dann erwachte tief in ihr überraschenderweise eine Stimme und sagte: Vielleicht nur, wenn dein Leben davon abhängt! Wenn die junge, völlig verängstige Elena Carmel noch irgendwoher Kraftreserven nehmen kann, warum dann nicht auch du?
Bevor sie das noch mit sich selbst ausdiskutieren konnte, brach der Flugwagen auch schon durch die Wolkendecke. Und innerhalb von Sekunden war kein Raum mehr, um sich den Luxus einer innerlich geführten Debatte zu leisten.
Hans Rebka dachte, er würde den allerletzten Rest an Energie, den der Flugwagen noch hatte, irgendwann später noch benötigen, und war nicht mehr bereit, auch nur das geringste bisschen Energie darauf zu verschwenden, den weiteren Flug in irgendeiner Weise zu dämpfen. Bei seinem rasend schnellen Sinkflug wurde der Wagen umhergeschleudert wie ein schwimmender Korken auf hoher See — bei Sturm. Doch es dauerte nicht lange. Nach weniger als einer Minute durchstießen sie die Wolkendecke.
Alle reckte die Hälse und blickten nach vorne. Was auch immer sie dort unten vorfinden würden, erneut aufsteigen konnten sie nicht mehr.
War das Raumschiff noch da? Gab es darum herum noch eine massive Oberfläche, auf der sie würden landen können? Oder waren sie den sengenden Strahlen von Mandel und Amarant entkommen, nur um nun in der geschmolzenen Lava von Erdstoß zu enden?
Darya starrte geradeaus, unfähig all diese Fragen zu beantworten. Dichter Rauch bedeckte den Boden vor ihnen. Sie sollten sich jetzt eigentlich oberhalb der Abhänge der Pentacline-Senke befinden, doch es konnte genauso gut auch jeder beliebige andere Punkt auf diesem Planeten unter ihnen sein.
»Naja«, meinte Hans Rebka ruhig, als rede er mehr mit sich selbst, »das Gute ist, dass wir keine Entscheidung mehr treffen müssen. Schauen Sie sich die Energieanzeige an, Max! Die steht schon auf Rot. Wir gehen jetzt runter, ob uns das nun passt oder nicht.« Er hob die Stimme. »Atemmasken aufsetzen!«
Dann schwebten sie in blaugrauen Rauch hinein, der wild an ihrem Gefährt zerrte, angetrieben von einem Wind, der so stark war, dass Rebka sehr schnell noch etwas hinzufügte. »Wir haben eine negative Grundgeschwindigkeit.
Ich gehe runter, so schnell ich kann, damit wir nicht wieder bis zur ›Nabelschnur‹ zurückgeweht werden!«
»Wo ist das Schiff?« Das war Julius Graves, der hinter Darya in dem beengten Gepäckabteil kauerte.
»Zwei Kilometer vor uns. Wir können es nicht sehen, aber ich glaube, dass es noch da ist. Ich fange hier eine anomale Radarreflexion auf. Wir schaffen es nicht bis zu dem Felsplateau, auf dem das Schiff gestanden hat, also werden wir auf dem Hang zum Tal hin landen müssen. Machen Sie sich bereit! Höhe zwanzig Meter … fünfzehn … zehn. Bereit zur Landung!«
Plötzlich erstarb der böige Wind. Der Rauch rings um sie wurde sichtlich dünner. Auf der einen Seite des Wagens konnte Darya den Boden sehen. Er war kahl und reglos, doch wie der Atem eines Drachen stieg Dampf aus Dutzenden kleiner Risse in der Oberfläche des Planeten auf, die über den gesamten Hang, der zur Pentacline-Senke hin abfiel, verstreut waren. Die dichte Vegetation, die Darya in der Senke eigentlich erwartet hatte, war fort. Hier gab es nichts außer grauer Asche und vereinzelten, verdorrten baumstammartigen Stummeln.