Was tun?
Bedrückt schätzte Rebka ihre neue Lage ab. Himmel und Erde grollten zwar momentan weniger heftig, aber statt acht Personen, Menschen wie Nichtmenschen, die sich recht zügig hatten bewegen können, gab es jetzt nur noch vier Personen, die wirklich einsatzfähig waren: er selbst, Graves, J’merlia und Kallik. Niemand wusste, wie hilfreich die beiden Nichtmenschen im Falle einer Krise sein würden, doch bisher hatten sie sich genauso gut geschlagen wie die Menschen.
Was war mit den anderen?
Perry hatte einen Schock erlitten — und Rebka war sich ziemlich sicher, dass dieser nicht nur rein physisch war —, stand da wie ein deaktivierter Roboter. Allerdings war Perry ein zäher Hund. Der konnte gehen, also würde er auch gehen. Andererseits konnte er niemand anderem mehr helfen, und da er seine Hände nicht mehr nutzen konnte, würde er ernst zu nehmende Schwierigkeiten haben, an dem Felshang hinaufzuklettern. Im Augenblick ließ Perry die Arme einfach nur hängen; sie waren bis zu den Ellbogen verbrannt: Arme aus verkohltem Hefeteig hätten nicht nutzloser sein können. Sobald der erste Schock erst einmal abgeklungen wäre, würden die Schmerzen furchtbar sein. Mit ein wenig Glück war das aber erst der Fall, wenn sie alle an Bord der Sommer-Traumschiff waren.
Darya Lang brauchte gewiss auch Hilfe. Ihr Fuß war nicht schlimmer verbrüht als Perrys Unterarme, aber sie war körperliche Schmerzen viel weniger gewöhnt als er. Sie weinte jetzt schon, Folge des Schocks ebenso wie der Schmerzen. Die Tränen rannen ihr über die schmutzigen, staubbedeckten Wangen.
Und dann war da noch Geni Carmel. Körperlich brauchte sie keine Unterstützung, doch ihr Herz war gerade in tausend Stücke zersprungen. Sie schien kaum wahrzunehmen, dass noch andere hier waren, sie würde kaum in der Lage sein, ihren Begleitern zu helfen.
Routine für Rebka, die nun anstehenden Aufgaben zu verteilen. »Allianzrat Graves, Sie kümmern sich um Geni Carmel! Ich werde Commander Perry helfen, soweit das erforderlich ist. J’merlia und Kallik, Professorin Lang benötigt eure Hilfe! Bitte steht ihr bei, vor allem, wenn wir mit dem Aufstieg beginnen!«
Und jetzt werden wir sehen, wie zäh Perry wirklich ist. »Commander, hier können wir nicht weitergehen. Können Sie uns eine alternative Route zum Schiff empfehlen?«
Perry erwachte wieder zum Leben. Er erschauerte, starrte seine verbrannten Unterarme an und hob dann vorsichtig die rechte Hand, sorgsam darauf bedacht, nichts damit zu berühren. Dann deutete er auf die linke Seite des gewaltige Basaltplateaus, bewegte den Arm dabei so, als handele es sich bei diesem um ein nicht zu seinem Körper gehörendes Objekt, das dennoch aus unerfindlichen Gründen mit diesem verwachsen schien.
»Als wir das letzte Mal hier waren, sind wir einem trockenen Wasserablauf gefolgt. Der bestand ganz aus Felsen, keine schlammige Oberfläche. Wenn wir den finden können, dann schaffen wir es vielleicht, ihm nach oben zu folgen.«
»Gut. Sie gehen vor!«
Während sie dem todbringenden, siedenden Schlamm auswichen, blickte Rebka zu dem Plateau hinauf. Es lag nicht mehr als vierzig Meter über ihnen, und trotzdem schien die Entfernung unüberwindbar zu sein. Der Wasserablauf führte nicht allzu steil hinauf. Ein gesunder Mensch mochte ihn innerhalb einer halben Minute emporsteigen können, Perry aber brauchte allein schon so lange, um die ersten Schritte den Hang hinauf zu machen. Zu langsam, das dauerte zu lange!
Rebka drängte sich an den anderen vorbei auf Perry zu und legte die Hände auf dessen Hüften.
»Gehen Sie einfach weiter! Machen Sie sich keine Gedanken, Sie könnten fallen! Ich bin da. Sagen Sie, wenn ich Sie schieben oder heben soll!«
Perry warf einen kurzen Blick über die Schulter, bevor er tat, was Rebka wollte und sich in Bewegung setzte. Julius Graves lotste Geni Carmel; die beiden kamen schnell genug voran. J’merlia und Kallik hatten bereits Versuche aufgegeben, Darya Lang irgendwie zu stützen. Ihnen war es effektiver vorgekommen, Darya Kallik auf den Rücken zu setzen, auch wenn sich das Hymenopter-Weibchen nun mühsam den Hang hinaufkämpfen musste. J’merlia tat sein Bestes, schob Kallik von hinten und feuerte sie mit einem bunten Sammelsurium von Pfeif- und Heultönen an.
Die Oberfläche unterhalb des Basaltmassivs erzitterte von neuem. Rebka beobachtete, wie der Flugwagen, mit dem sie hier angekommen waren, sich zur Seite neigte und dann umkippte. Eine schwarze Rauchwolke verschluckte ihn, dann kam diese langsam und stetig in ihre Richtung gekrochen.
Eines nach dem anderen!, mahnte er sich. Jetzt nicht nach hinten schauen und nicht nach oben!
Rebka konzentrierte sich ganz darauf, Max Perry zu helfen. Sollte Perry stürzen, risse er alle mit sich in die Tiefe.
Sie kämpften sich weiter voran, über losen Kies hinweg. Einmal wurde es kritisch, als Perry abrutschte und vornüber auf die Felswand zustürzte. Er stöhnte auf, als er mit den verletzten Händen auf der rauen Oberfläche aufprallte und die verbrannten Handballen aufplatzten. Rebka bekam ihn gerade noch zu fassen, ehe Perry noch weiter abrutschen konnte. Nach wenigen Sekunden kämpften sie sich bereits wieder den steinigen Wasserlauf entlang.
Erst als Perry die letzten, sehr viel einfacheren Schritte hinter sich gebracht hatte, wagte Rebka, sich umzudrehen und zu schauen, was hinter ihm passierte. Graves ging mit unsicheren Schritten, stand kurz davor zusammenzubrechen, und Geni Carmel stützte ihn. Die anderen drei waren noch auf halber Höhe und kamen nur langsam voran. Rebka hörte, wie Kallik vor Anstrengung klickte und pfiff.
Sie mussten es allein schaffen. Wichtiger als alles andere war jetzt das Raumschiff. War es noch einsatzfähig, hatte es noch genügend Energie, um noch ein letztes Mal in den Orbit abzuheben? Perry war zur Sommer-Traumschiff hinübergewankt, stand dann aber reglos vor geschlossener Luke. Frustriert hob er die Hände, als Rebka neben ihn trat. Ohne seine Finger nutzen zu können, hatte er keinerlei Möglichkeit, an Bord zu kommen.
»Sagen Sie den anderen, sie sollen sich beeilen — vor allem Kallik!« Rebka riss bereits die Luke auf, und da erst begriff er, wie klein dieses Schiff war. Perry hatte ihm zwar gesagt, dass es kaum mehr als ein Spielzeug war, aber mit eigenen Augen zu sehen, wie winzig das Ding war, war eine unangenehme Überraschung: Der Innenraum war ja kaum größer als der des Flugwagens!
Rebka hastete zu den Instrumenten hinüber. Wenigstens würde er mit denen keine Schwierigkeiten haben, selbst ohne Hilfe von Kallik oder Geni Carmel. Das war die einfachste Instrumententafel, die er jemals gesehen hatte.
Er aktivierte die Displays. Die Energieanzeige meldete erschreckend niedrige Werte. Und wenn sie jetzt nur die Hälfte der Strecke zum Orbit schafften?
Er warf einen Blick auf das Chronometer. Weniger als eine Stunde bis zum Höhepunkt des Gezeitensturms. Damit war seine Frage beantwortet: Jacke wie Hose, wofür sie sich entschieden, rien ne va plus. Während die anderen sich in das beengte Innere zwängten, leitete er bereits die Startvorbereitungen ein.
Darya Lang und Geni Carmel waren die Letzten, die an Bord kamen.
»Die Luke schließen!«, befahl Rebka und wandte sich wieder den Instrumenten zu. Er wartete nicht, ob sie seiner Anweisung nachkamen, und es war auch keine Zeit mehr, noch die lange Checkliste durchzugehen, die eigentlich vor einem Start ins All anstand. Durch die Frontscheibe sah er, wie ein Flammenteppich auf der Oberfläche unaufhaltsam, unbeirrbar auf sie zugekrochen kam. In wenigen Sekunden würde der das Schiff vollständig einhüllen.
»Festhalten! Ich starte mit drei G!«
Wenn wir Glück haben, dachte er. Und wenn nicht … Hans Rebka gab vollen Startschub. Das Raumschiff erzitterte und mühte sich nach Kräften.
Nichts geschah, es schien Minuten zu dauern. Dann, als der Feuersturm sie schon fast erreicht hatte, schienen sämtliche Bauteile, jedes Schott, der ganze Rumpf der Sommer-Traumschiff’ aufzustöhnen — ein Zittern durchlief das Schiff, dann hob es in den pechschwarzen, wild bewegten Himmel von Erdstoß ab.