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Gezeitensturm
Zehn Sekunden, nachdem sie mit ihrem Fuß in den siedenden schwarzen Schlamm geraten war, schaltete sich Darya Langs Nervensystem praktisch vollständig ab. Sie empfand keine Schmerzen, sie empfand keine Sorgen, sie empfand keine Trauer.
Sie wusste, rein abstrakt, dass Max Perry schlimmere Verbrennungen hatte als sie und er die Gruppe irgendwie sogar den steinigen Hang hinauf anführte; doch so viel Opferwillen und Bereitschaft überstiegen ihre Vorstellungskraft. Wenn sie bei Bewusstsein blieb, dann nur, weil sie nicht wusste, wie sie hätte bewusstlos werden können. Und wenn sie gemeinsam mit den anderen zum Schiff hinaufkletterte, dann nur, weil Kallik und J’merlia ihr gar keine andere Wahl ließen. Sie hoben sie an, trugen sie, achteten sorgsam darauf, dass ihr Fuß und ihr Knöchel nicht ein einziges Mal den Boden berührten.
Ihre Isolation fand ein Ende — ein schmerzhaftes Ende —, als sie sich der Einstiegsluke des Schiffes näherten. Schmerz zuckte immer und immer wieder durch ihren Fuß und ihren Knöchel, als Kallik sie sanft auf den Boden legte.
»Mit der Bitte um Verzeihung und immensem Bedauern«, bat J’merlia leise, die dunklen Mandibeln dicht an ihrem Ohr. »Doch der Einstieg ist nur groß genug für eine einzelne Person. Es wird notwendig sein, dass Sie allein an Bord gehen.«
Die wollten sie einfach ablegen und forderten dann auch noch, dass sie ganz allein, jetzt, wo die Schmerzen unerträglich wurden, ginge! Ihr verbrannter Fuß würde den Boden berühren! Sie flehte die beiden Nichtmenschen an, versuchte ihnen zu erklären, dass sie es einfach nicht würde ertragen können. Doch es war schon zu spät. Plötzlich stand sie auf einem Bein, unmittelbar vor der Luke, und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Schneller!«, drängte Max Perry sie aus dem Inneren des Schiffes.
Sie warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. Dann sah sie seine Hände und seine Unterarme, von Brandblasen überzogen und bis zum Knochen aufgeplatzt, nachdem er beim Aufstieg gegen scharfkantige Steine und Kiesel gestoßen war. Er musste sich viel schlimmer fühlen als sie. Darya biss die Zähne zusammen, hob den linken Fuß vom Boden, umklammerte mit beiden Händen den Rahmen der Luke und machte behutsam einen Satz in das Innere des Raumschiffs. Darin war kaum genug Platz für die Personen, die bereits an Bord waren. Irgendwie gelang es ihr, zum Seitenfenster des Schiffes zu kriechen und dort auf einem Bein stehen zu bleiben.
Was sollte sie denn jetzt tun? Sie konnte doch nicht ewig dort stehen bleiben, und sie konnte nicht einmal den Gedanken ertragen, irgendetwas könnte ihren Fuß berühren.
Rebkas Ankündigung, er werde mit drei G starten, beantwortete ihre Frage. Seine Worte entsetzten sie. Sie konnte kaum in einem Schwerefeld von einem G stehen! Sie würde sich hinlegen müssen, und dann würden die Beschleunigungskräfte von drei G ihren ruinierten Fuß gegen das unbarmherzige Deck pressen!
Bevor sie noch irgendetwas sagen konnte, spürte sie Kalliks untersetzte Gestalt unmittelbar neben sich. Das Hymenopter-Weibchen drängte sich vor, bis ihr weicher Unterleib neben Daryas verletztem Fuß platziert war, und stieß ein Dutzend leiser Pfeiflaute aus.
»Nein! Nicht anfassen!«, schrie Darya voller Panik.
Noch während sie versuchte, ihr Bein wegzuziehen, kam der glitzernde, gelbe Stachel aus Kalliks Unterleib hervor. Er bohrte sich im selben Moment mehrere Zentimeter tief in ihre Wade. Darya stieß einen Schrei aus, fiel nach hinten, stieß sich den Hinterkopf an der Vorratskiste hinter dem Pilotensitz, auf der sie aufschlug.
Der Start begann, bevor Darya sich wieder bewegen konnte.
Sie spürte, dass sie aufs Deck gepresst wurde und ihr Fuß gegen die Metallplanken. Ihr verletzter Fuß! Sie wollte schreien. Sie öffnete schon den Mund, da wurde ihr schlagartig klar, dass die einzigen Körperteile, die derzeit nicht schmerzten, ihr Fuß und ihre Wade waren. Dank Kalliks Stich hatte sie darin jegliches Gefühl verloren.
Sie lehnte sich zurück und drehte den Kopf zur Seite, damit Wange und Ohr dessen plötzlich so viel höheres Gewicht trugen. Überall auf dem Deck lagen, scheinbar miteinander verschlungen, die Körper der anderen auf den Planken. Darya konnte Kallik sehen, unmittelbar vor ihr; auf deren pelzigem Bauch ruhte Geni Carmels Kopf. Julius Graves lag gleich daneben, doch von ihm konnte sie nur den glänzenden, kahlen Schädel erkennen, neben J’merlias ebenso glänzenden, schwarzen Cranium. Rebka steuerte das Schiff, neben ihm saß festgeschnallt Max Perry, das wusste Darya, sehen konnte sie sie nicht, weil Vorratskiste und Rückenlehne des Pilotensitzes ihr den Blick nahmen.
Darya strengte sich an, und es gelang ihr, den Kopf in die andere Richtung zu drehen. Jetzt konnte sie aus dem Seitenbullauge des Schiffes blicken, das nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt war. Es war unglaublich — sie mussten sich doch schon seit Minuten im Aufstieg befinden —, doch das Schiff befand sich immer noch unter der Wolkendecke von Erdstoß! Darya sah einen grellen Lichtblitz, der die Oberfläche des Planeten erhellte. Die Planetenkruste war jetzt fast überall aufgesprungen, entlang zahlloser Verwerfungen waren tiefe Risse entstanden, die ein grobes Gitternetz bildeten; darüber brandeten Wellen orangeroter Lava hinweg wie der Seegang eines unruhigen Ozeans. Der ganze Planet stand jetzt in Flammen, es sah aus, als blicke man auf den Ort der Ewigen Verdammnis, alles war da, was von der Hölle überliefert war. Dann stieß das Schiff in die schwarzen Wolken vor, die so dicht waren, dass die vorderen Kanten der rudimentären Seitenruder, die nur wenige Meter jenseits des Bullauges lagen, nicht mehr zu erkennen waren.
Die Turbulenzen und die Scherkräfte verdreifachten sich. Hilflos rollte Darya auf Kallik zu, und gemeinsam rutschten die beiden dann über Deck, bis sie gegen Julius Graves prallten. Noch eine Bewegung, und alle drei rutschten wieder zurück, sodass Darya heftig gegen die Wandung gepresst wurde. In dieser Position war sie immer noch, festgehalten vom Gewicht aller — von Rebka und Perry abgesehen —, als die Sommer-Traumschiff plötzlich und unerwartet durch die Wolkendecke von Erdstoß brach. Durch das Bullauge brach eine Sonnenprotuberanz von unerträglich gleißender Helligkeit, dann aktivierte sich der Photofilter.
Darya hatte Glück gehabt. Sie hatte das Gesicht nicht dem Bullauge zugewandt gehabt, und außerdem hatte sie zufälligerweise den Kopf auch noch unter Kalliks Unterleib, als der alles versengende Lichtstrahl das Schiff traf. Alle anderen in der hinteren Sektion des Schiffes waren für einige Sekunden geblendet.
In den vorderen Sitzen waren Perry und Perry geschützt gewesen, doch sie blickten geradeaus und versuchten, das Schiff dazu zu überreden, unter Bedingungen in einen Orbit einzuschwenken, für die es niemals gebaut worden war. Also war es Darya vorbehalten, Zeugin dessen zu werden, was als Nächstes geschah.
Die Traumschiff jagte jetzt über die Hemisphäre von Erdstoß hinweg, die von Opal abgewandt war. Zu Daryas Linken standen Mandel und Amarant als Scheiben tief am Himmel. Durch den Photofilter zeigten sich die Zwillingssterne nur noch als glimmende, dunkle Kreise, und über den Oberflächen zeichneten sich wie Narben und Markierungen zahllose Sonnenflecken ab. Ihre Gezeitenkräfte zerrten aneinander, ebenso wie sie an Erdstoß und Opal zerrten. Unmittelbar über ihnen schien Gargantua, bleich und geisterhaft, ein Riese, dessen reflektiertes Licht durch den Photofilter ihn in eine matte, unwirkliche Geisterwelt verwandelte. Von einem Punkt aus, der sehr nah an der ›Kante‹ von Gargantua lag — Darya konnte nicht genau bestimmen, wo dieser Punkt sich befand, ob auf dem Planeten oder davor — jagte plötzlich ein gleißender blauer Strahl auf Erdstoß zu, er leuchtete, doch es war eindeutig eine kontrollierte Energieabgabe.