Darya blickte dem Lichtblitz hinterher. Es konnte kein gewöhnliches Licht gewesen sein. Das wäre im luftleeren Raum unsichtbar gewesen, Darya aber konnte die gesamte Länge des ›Lichtstrahls‹ mit bloßem Auge erkennen. Und dort, wo der pulsierende Strahl von Gargantua die Wolkendecke traf, verkochte augenblicklich die staubdurchwirbelte Schutzschicht des Planeten. Ein kreisförmiger Ausschnitt der Oberfläche von Erdstoß, etwa einhundert Kilometer im Durchmesser, lag auf einmal bloß, war nicht mehr geschützt vor der kombinierten Strahlung von Mandel und Amarant. Die Oberfläche, die ohnehin schon vor geschmolzener Lava siedete, begann sich zu verformen und tiefe Krater zu bilden. Ein dunkler Tunnel tat sich auf, wurde rapide tiefer und breiter. Schon konnte Darya das kochende, geschmolzene Innere des Planeten betrachten, das sich in Wellen hervorsprudelnd brach und einen Pfropf bildete, der nun das neu entstandene Loch verschloss.
Die Flugrichtung des Schiffes trug Darya immer weiter von dem Tunnel fort, und bei dem Blickwinkel, den zu betrachten ihr das Bullauge gestattete, konnte sie nicht bis auf den Grund der Vertiefung blicken. Sie beugte sich näher an das Bullauge heran, ignorierte den Schmerz in ihrem überall von Prellungen übersäten Körper und ihrem nicht weniger geschundenen Gesicht. Als das Schiff weiter an Höhe gewann, hing Erdstoß unter Darya wie eine gewaltige, wolkenüberzogene Perle, die an diesem Stift aus leuchtend blauem Licht befestigt war. Dort, wo der Lichtstrahl auftraf, war das dunkle Loch, das immer tiefer in die Perle gebohrt zu werden schien, von innen heraus durch die Auskleidung mit glühender Lava beleuchtet.
Was dann geschah, geschah derart rasch, dass Darya später Schwierigkeiten hatte, sich an die genaue Reihenfolge der Ereignisse zu erinnern.
Als die Eigenrotation von Erdstoß zuerst Mandel, dann auch Amarant hinter dem Horizont verschwinden ließ, kam wie eine Lanze ein zweiter blauer Strahl aus den Tiefen des Alls und vereinigte sich mit dem von Gargantua. Er kam nicht von irgendeinem Objekt, das Darya am Himmel hätte erkennen können, obwohl sie den Lichtstrahl mit dem Auge immer weiter verfolgen konnte, tiefer und tiefer ins All, bis die blaue Linie zu dünn wurde, um sie noch weiter verfolgen zu können.
Diese neue Lichtlanze bohrte sich in den Tunnel, der bereits in die Kruste des Planeten gerissen war, und das Loch erweiterte sich — nicht stetig, sondern in einem einzigen, schlichtweg unglaublichen Ruck, bei dem unvorstellbare Mengen Gesteinsmaterial einfach zur Seite gedrängt wurden. Wie zur Antwort ragten von dort jetzt dünne Lichtstrahlen, rot und cyanblau, ins All zurück, genau in die Richtungen, aus denen die anderen Strahlen gekommen waren. Und im gleichen Augenblick gebar der Tunnel aus seiner Tiefe zwei silbrige Kugeln.
Sie sahen völlig identisch aus, jede maß etwa einen Kilometer im Durchmesser. Langsam stiegen sie auf, blieben dann reglos in der Luft stehen, eine ein Stück tiefer, näher an der Planetenoberfläche als die andere, zitterten wie zwei transparente Gasballons, gefüllt mit Quecksilber.
Die blauen Strahlen veränderten ihre Farbe. Der, der von Gargantua ausgegangen war, wurde safrangelb, der andere leuchtend magenta. Bisher hatten die Strahlen über ihre ganze Länge und die ganze Zeit über pulsiert, jetzt änderte sich die Frequenz dieses Pulsierens. Während das geschah, begann die höhere der beiden Kugeln zu beschleunigen, bewegte sich genau an dem magentafarbenen Strahl entlang. Zuerst nur langsam, dann plötzlich sehr viel schneller, war sie nur noch einen Sekundenbruchteil zu sehen, dann war sie fort. Darya konnte nicht sagen, ob sie außer Sicht gejagt war — mit immenser Beschleunigung — oder durch irgendeinen anderen Mechanismus verschwunden. Im gleichen Augenblick, da die Kugel verschwand, erlosch auch der magentafarbene Strahl.
Die zweite Kugel schwebte immer noch reglos in der Nähe von Erdstoß. Nach einigen Augenblicken begann sie, sich langsam entlang des safranfarbenen Lichtstrahls zu bewegen. Doch die Bewegung war gemächlich, fast schwerfällig. Darya konnte ihr problemlos mit den Augen folgen, dieser silbernen Kugel, die am safranfarbenen Strahl emporstieg wie eine silbrige Spinne, die an ihrem eigenen Faden emporkroch.
Und plötzlich konnte Darya nichts mehr scharf erkennen. Rings um den Ball hatte sich der Anblick der Sterne auf einmal verzerrt und verdreht. Die Kugel selbst verschwand, zurück blieb eine schwarze Leere, um die aus allen Richtungen die verstreuten Lichtpunkte der Sterne konvergierten und dann einen ringförmigen Regenbogen bildeten. Genau dort, wo die Kugel verschwunden war, war nun ein pechschwarzer Punkt inmitten dieses gleißenden Sternenrings. Und dieser schwarze Punkt stieg entlang des gelben Lichtstrahls auch weiter hinauf.
Während Darya noch dieses Loch im Weltraum anstarrte, vollführte die Traumschiff eine schwindelerregende halbe Rolle und beschleunigte plötzlich zu vollem Schub. Darya hörte, wie Hans Rebka, der immer noch im Pilotensitz saß, laut aufschrie. Ein gleißend heller, violetter Lichtstrahl, der Antrieb eines Raumschiffs, das unter vollem Schub beschleunigte, brandete über die Sternenlandschaft hinweg und bestrich dann den Bug der Traumschiff.
Darya riss den Kopf herum, um nach vorn zu blicken, und erkannte den grobschlächtigen Rumpf eines Schiffes der Zardalu-Gemeinschaft, das plötzlich geradewegs auf die Traumschiff zuhielt. Am Bug öffneten sich verborgene Waffenschächte.
Die Traumschiff war das Ziel — und auf diese Entfernung war es unmöglich, dass das andere Schiff sein Ziel verfehlen könnte.
Entsetzt musste Darya mitansehen, wie sämtliche Waffen das Feuer eröffneten. Sie rechnete damit, dass die Traumschiff sich, jetzt rings um sie in ihre Bestandteile auflösen würde. Doch, so unmöglich es auch war, die todbringenden Lichtstrahlen krümmten sich, bogen von dem zu erwartenden geraden Kurs ab. Sie verfehlten die Traumschiff, als hätten sie gar nicht auf diese gezielt, hielten auf den Tiefenraum zu, wurden von der schwarzen Sphäre angezogen, die immer noch an diesem goldenen Lichtfaden hing.
Die Strahlen der Schiffsbewaffnung blieben als gleißende Flugbahnen im Raum erkennbar, verknüpften nun das Zardalu-Schiff mit der dunklen, immer weiter aufsteigenden Kugel. Die gekrümmten Lichtstrahlen verkürzten sich. Das Zardalu-Schiff näherte sich der verzerrten dunklen Raumregion, als würde die Sphäre die leuchtenden Strahlen seiner Waffen einholen wie eine Spindel.
Nur war das Zardalu-Schiff offensichtlich nicht bereit, sich kampflos zu ergeben. Sein Antrieb flammte auf, das strahlende Violett maximaler Leistung war zu erkennen; das Schiff versuchte, sich von der Singularität der dunklen Sphäre zu entfernen. Darya hatte das Gefühl, geradezu zu sehen, wie gewaltige Kräfte hier gegeneinander kämpften.
Und das Raumschiff verlor den Kampf. Gefangen in der Krümmung des Feldes bewegte es sich entlang der Kraftlinien, wurde unaufhaltsam zu der immer weiter aufsteigende Sphäre gezogen. Die Sphäre selbst bewegte sich jetzt schneller und schneller fort von dem Planeten. Es kam Darya so vor, als werde das Zardalu-Gefährt in die schwarze Leere hineingesaugt, nur einen kurzen Augenblick, bevor die Sphäre selbst den gelben Lichtfäden entlang davonschoss und verschwand.
Die Sommer-Traumschiff jedoch flog weiter, um die Krümmung der Oberfläche von Erdstoß herum. Gargantua versank hinter dem Horizont, und damit auch alle Anzeichen für den zuvor noch gut zu beobachtenden pulsierenden, gelben Energiestrahl.
»Keine Ahnung, ob das noch jemanden interessiert.« Es war die lakonische Stimme von Rebka, die Darya jetzt schlagartig daran erinnerte, wo sie eigentlich war. »Aber ich habe gerade auf das Chronometer geschaut. Der Höhepunkt des Gezeitensturms hat vor wenigen Sekunden stattgefunden. Und wir befinden uns im Orbit.«