Выбрать главу

Seine Worte brachten Darya dazu, wieder aus dem Bullauge auf die Oberfläche von Erdstoß hinabzublicken. Es gab dort nichts zu sehen außer einem dunklen, endlosen Wolkenmeer und dahinter, am Horizont, die blaugraue Kugel von Opal.

Der Gezeitensturm. Er war vorbei. Und er war ganz anders gewesen als alles, was sie sich vorgestellt hatte. Sie blickte zu den anderen hinüber, die sich immer noch die Augen rieben, während sie auf dem Deck des Raumschiffs lagen, und war unendlich enttäuscht. Sie hatte jetzt das alles gesehen — und nichts verstanden! Diese ganze Reise nach Erdstoß während des Gezeitensturms war nur ein einziges, ungelöstes Rätsel, eine Verschwendung von Zeit und Menschenleben!

»Die gute Nachricht ist: wir haben den Orbit erreicht.« Das war wieder Rebka, und Darya hörte seiner Stimme an, wie erschöpft er war. »Die schlechte Nachricht ist: diese netten kleinen Manöver, die wir gerade haben durchführen müssen, haben uns auch noch das letzte bisschen Energie geraubt. Das haben wir wahrscheinlich Louis Nenda und Atvar H’sial zu verdanken. Ich habe keine Ahnung, was eigentlich passiert ist, zum Beispiel mit dem anderen Schiff, und eigentlich ist es mir auch egal. Schön, wenn Nenda und H’sial ihre wohlverdiente Strafe bekommen haben, aber im Augenblick habe ich wirklich nicht die Zeit, mich damit zu befassen. Ich mache mir ernstlich Sorgen um uns. Ohne Energie können wir nicht auf Opal landen oder auf Erdstoß oder irgendwo sonst. Commander Perry arbeitet gerade einen Kurs aus, der uns vielleicht zu ›Mittelstation‹ bringt. Mit ein bisschen Glück können wir uns da vielleicht an ›Nabelschnur‹ dranhängen.«

›Arbeitet gerade einen Kurs aus‹, dachte Darya. Wie denn das? Perry hat doch gar keine Hände mehr, nur noch ein paar verbrannte Fleischklumpen.

Aber er würde es dennoch tun, ob nun mit Händen oder ohne. Und wenn sein Fuß so verbrannt wäre wie meiner, dann würde er damit auch noch spazieren gehen. Sogar rennen, wenn das notwendig wäre. Hans Rebka spricht von ›Glück‹, aber davon haben wir gar nicht allzu viel gehabt. Wir waren unser eigenes Glück, haben es ganz allein geschafft.

Ich werde nie wieder über den Phemus-Kreis spotten. Die Leute da mögen nicht besonders sauber sein, einfach ekelhaft, arm und absolut unzivilisiert, doch Rebka, Perry und all ihre Landsleute haben etwas, was die Bewohner der Allianz erscheinen lässt, als seien die schon so gut wie tot: Die haben einen Überlebenswillen, der niemals aufhört, was auch immer passiert.

Und dann, weil Darya sich zunehmend entspannte und immer träger wurde, eine Folge der Anästhetika und der leicht toxischen Flüssigkeit, die Kallik ihr injiziert hatte, und weil eine Darya Lang niemals zu denken aufhören konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte, sagte ihr Verstand ihr: ›Nabelschnur‹. Wir gehen nach ›Nabelschnur‹.

Das unbedeutendste aller Artefakte der Baumeister; das wusste sie, das wusste jeder. Ein unbedeutendes Nichts von einer Konstruktion, gemessen am Maßstab der Baumeister. Doch es war genau dieser Ort, genau dieses unbedeutendste aller Artefakte, und das genau zu dieser Zeit, während des Höhepunkts des Gezeitensturms, auf das alle anderen Artefakte gedeutet hatten.

Warum? Warum hatten sie nicht auf irgendein anderes, eines der atemberaubenden Artefakte hingewiesen wie ›Paradox‹ oder ›Wachpostens wie ›Elefant‹ oder ›Kokon‹, wie ›Linse‹?

Also, das ist jetzt wirklich ein echtes Rätsel, eines, über das nachzudenken sich lohnt. Vergessen wir doch einmal den Schlamassel, in dem wir gerade stecken, und denken ein wenig darüber nach. Ich kann Rebka und Perry nicht helfen, und ich muss das auch gar nicht. Die werden sich schon um mich kümmern. Also denken wir nach.

Fragen wir uns doch, was es mit den beiden Sphären auf sich hatte, die aus dem Innersten von Erdstoß gekommen sind. Wie lange waren sie dort wohl schon? Warum sind sie dort? Wohin sind sie gegangen? Warum haben sie gerade diesen Augenblick ausgewählt, zum Vorschein zu kommen, und was hatte die schwarze Sphäre dazu gebracht, das Zardalu-Schiff mitzunehmen?

Die Fragen blieben unbeantwortet. Während Kalliks Narkotikum sich immer weiter in ihrem Blut verteilte, driftete Darya langsam in Richtung Bewusstlosigkeit. Es blieb zu wenig Zeit, weiter nachzudenken. Ihre Konzentration war fort, ihre Energie war fort, und ihr Hirn trieb aufs Geratewohl von einem Thema zum nächsten. Der Schlaf, den die Medikamente mit sich brachten, war nur noch Augenblicke entfernt.

Doch im letzten Augenblick, in der letzten Sekunde, bevor ihr Verstand in vage Leere sank, sah Darya einen Schimmer neuer Erkenntnis aufblitzen. Sie verstand jetzt die Bedeutung von Erdstoß und dem Gezeitensturm! Sie wusste jetzt, welche Funktion das alles hatte, und vielleicht sogar, welche Rolle sie selbst darin gespielt hatte. Sie streckte die geistige Hand nach diesem Gedanken aus, mühte sich nach Kräften, ihn näher zu sich heranzuziehen, versuchte ihn ganz fest in ihrer eigenen Erinnerung zu verankern.

Es war zu spät. Darya, die sich immer noch abmühte, trieb unaufhaltsam dem Schlaf entgegen.

23

Rebka erwachte wie ein unruhiges Tier, zuckte hoch, sofort hellwach, nachdem er tief und fest geschlafen hatte. In diesem ersten Augenblick bestand seine gesamte Gefühlswelt aus nichts als nackter Panik.

Er hatte den verhängnisvollen Fehler gemacht, sich eine kurze Unkonzentriertheit zu erlauben. Wer flog jetzt das Schiff?

Der Einzige, der von seinen Fähigkeiten halbwegs dazu in der Lage gewesen wäre, war Max Perry, und der war zu schwer verletzt, um die Steuerung zu übernehmen. Sie hätten geradewegs in Opal hineinkrachen, wieder zur Oberfläche von Erdstoß zurückfallen oder für alle Zeiten im Tiefenraum verloren gehen können!

Dann jedoch, noch bevor er die Augen geöffnet hatte, war er sich sicher, dass alles in Ordnung sein musste.

Niemand flog das Schiff. Das war auch nicht notwendig. Er befand sich nicht an Bord der Sommer-Traumschiff — das war gar nicht möglich. Denn er befand sich nicht im freien Fall. Und die Kräfte, die sich auf ihn auswirkten, waren nicht die wilden, turbulenten Kräfte, wie er sie vom Eintritt in eine Atmosphäre her kannte. Stattdessen spürte er einen stetigen Zug nach ›unten‹, diese Beschleunigung von nur dem Bruchteil eines G, die ihm verriet, dass er sich in einer Kapsel entlang ›Nabelschnur‹ bewegte.

Er öffnete die Augen und erinnerte sich an die letzten Stunden ihres Fluges. In Schlangenlinien hatten sie auf ›Mittelstation‹ zugehalten, betrunkene Seefahrer, die erbärmlichste Ansammlung von Menschen und Nichtmenschen, die das Dobelle-System jemals erlebt hatte. Er erinnerte sich daran, wie er sich die Lippen und die Fingerspitzen zerbissen hatte, bis das Blut daraus hervorgequollen war, wie er darum gekämpft hatte, bloß nicht einzuschlafen, wie er darum gekämpft hatte, die Augen offen zu halten. Er war Perrys halb unverständlichen Navigationsanweisungen gefolgt, so gut er nur konnte, während sie fünf Stunden lang immer und immer wieder Wendemanöver um ›Nabelschnur‹ herum gefahren waren. Mit Hilfe der winzigen Regulierungsdüsen für die Fluglage — das Einzige, was an Bord der Traumschiff noch Energie hatte — war es Rebka schließlich gelungen, sie mit letzter Kraft im größten Hangar der Station andocken zu lassen.

Er erinnerte sich an den Anflug — eine Schande für jeden Piloten. Es hatte fünfmal so lang gedauert, wie es eigentlich hätte dauern dürfen. Und als die letzte Andockmeldung an Bord eingegangen war, hatte Rebka sich im Pilotensitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen — um sich einen Moment auszuruhen.

Und dann?

Dann hörten seine Erinnerungen einfach auf. Er blickte sich um.

Er musste eingeschlafen sein, gleich nachdem er die Meldung erhalten hatte. Irgendjemand hatte ihn in die ›Mittelstation‹ getragen und ihn dann zur Betriebsebene einer ›Nabelschnur‹-Kapsel gebracht. Dort hatte man ihm ein Medi-Korsett angelegt und ihn dann dort gelassen.