»Sie gehört ganz Ihnen, Captain«, meinte Graves daraufhin, für Rebka recht unerwarteterweise. »Ich gehe jetzt J’merlia und Kallik suchen.« Er kletterte durch die Luke an der Seite der Kammer und verschwand aus Rebkas Blickfeld.
Rebka ging zu Lang hinüber und besah sich nachdenklich den Schaden, den die Wissenschaftlerin angerichtet hatte. Er verstand immer weniger, was hier eigentlich vor sich ging. Nachdem sie nun von Erdstoß entkommen waren, hätten sich abgesehen von ihm alle entspannen können; stattdessen schienen sie alle schon wieder neue Pläne zu verfolgen. Darya Lang klang gehetzt und wütend.
Er streckte die Hand aus, zog vorsichtig an einer Befestigung des Korsetts, dann fester an einer anderen. Das Ergebnis war durchaus erfreulich. Die Befestigungen lösten sich, was dafür sorgte, dass Darya Lang langsam auf das Deck schwebte. Er half ihr auf und erhielt zur Belohnung — ebenso überraschend — ein peinlich berührtes Lächeln.
»Und warum habe ich das nicht hingekriegt?« Vorsichtig setzte sie ihren verletzten Fuß auf das Deck, zuckte mit den Achseln und trat fester auf. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass wir gerade ›Nabelschnur‹ erreicht hatten und Graves und Kallik mich mit dem MediKit versorgt haben. Wie lange habe ich geschlafen — und wann erreichen wir Opal?«
»Ich weiß nicht, wie lange Sie geschlafen haben, aber der Gezeitensturm war vor dreiundzwanzig Stunden.« Rebka warf einen Blick auf seine Uhr. »Na ja, fast vierundzwanzig. Und in ein paar Stunden sollten wir auf Opal aufsetzen. Falls wir dort werden aufsetzen können. Die hat es da richtig übel erwischt. Aber wir haben keine Eile. Wir haben reichlich Essen und Wasser an Bord. In der Kapsel können wir wochenlang überleben — wir können sogar wieder an ›Nabelschnur‹ hinauf zur ›Mittelstation‹, wenn das notwendig sein sollte, und dort so lange bleiben wie nötig — auch unbegrenzt.«
»Auf gar keinen Fall!« Darya schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir nicht leisten, lange zu warten. Ich bin erst ein paar Minuten wieder bei Bewusstsein, aber die habe ich samt und sonders damit verbracht, den Kerl zu verwünschen, der mich so mit Schmerzmitteln vollgepumpt hat. Wir müssen auf die Oberfläche von Opal, und Sie müssen mir ein Schiff besorgen!«
»Um nach Hause zu fahren? Warum die Eile? Weiß irgendjemand auf Wachposten-Tor, wann Sie wieder zurückkommen?«
»Niemand.« Sie ergriff Hans Rebkas Arm, stützte sich auf ihn, während sie gemeinsam zu der kleinen Kombüse der Kapsel hinübergingen. Dort setzte sich Darya, langsam und bedächtig, und schüttete sich dann in aller Ruhe ein heißes Getränk ein. Schließlich drehte sie sich zu ihm um. »Aber Sie haben das falsch verstanden, Hans. Ich möchte nicht nach Wachposten-Tor zurück. Ich möchte nach Gargantua. Und da werde ich Hilfe brauchen.«
»Ich hoffe, Sie erwarten nicht, die von mir zu bekommen.« Rebka wandte den Blick ab, spürte nur allzu deutlich ihre Finger an seinem Bizeps. »Hören Sie, ich weiß, dass Nendas Schiff nach Gargantua gezogen wurde und die beiden den Tod gefunden haben. Aber Sie wollen doch nicht auch umkommen! Gargantua ist ein Gasriese, eine gefrorene Welt — da können wir nicht überleben; und Cecropianer auch nicht.«
»Ich habe nicht gesagt, das Schiff und diese Sphäre seien geradewegs nach Gargantua gelangt. Das glaube ich auch nicht. Ich glaube, dass der Ort, den ich aufsuchen muss, auf einem der Monde von Gargantua liegt. Aber das werde ich erst wissen, wenn ich dort ankomme.«
»Dort ankommen und dann was? Ein paar Leichen einsammeln? Wen interessiert denn, was mit den Leichen von denen passiert? Atvar H’sial hat Sie ausgesetzt, damit Sie auf Erdstoß sterben, Darya, und zusammen mit Nenda hat die Cecropianerin J’merlia und Kallik im Stich gelassen. Selbst wenn Atvar H’sial und Nenda jetzt noch am Leben sein sollten — und Sie sagen, dass sei nicht der Fall —, verdienen die beiden Ihre Hilfe nicht.«
»Da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Und das ist auch nicht der Grund, warum ich den beiden folgen will.« Darya reichte Rebka eine Tasse. »Beruhigen Sie sich, Hans! Trinken Sie das hier, und dann hören Sie mir eine Minute zu! Ich weiß, dass die Leute aus dem Phemus-Kreis glauben, alle aus der Allianz seien Elfenbeinturmbewohner und absolut unfähig; genauso wie wir denken, ihr wärt alle primitive Barbaren, die sich nicht einmal die Mühe machen, sich gelegentlich zu waschen …«
»Holla!«
»Aber Sie und ich, wir beide haben nun doch schon eine gewisse Zeit miteinander verbracht — genug Zeit, um zu wissen, dass diese Vorstellungen totaler Unsinn sind. Sie werden doch zugeben, dass ich zumindest eine akzeptable Beobachterin bin. Ich erfinde nichts. Also lassen Sie mich Ihnen erzählen, was ich gesehen habe, von mir unkommentiert. Jeder andere hier könnte den springenden Punkt übersehen; Ihnen aber traue ich zu, die richtigen Schlüsse aus meinen Beobachtungen zu ziehen.
Aber denken Sie daran: erst zuhören, dann nachdenken, dann reagieren, und nicht anders herum!« Sie rutschte noch etwas näher an Rebka heran, setzte sich so, dass ihm gar nichts anderes mehr übrig blieb, als ihr zuzuhören.
»Als wir die Wolkendecke von Erdstoß durchstießen, waren Sie zu beschäftigt damit, das Schiff zu steuern, als dass Sie irgendetwas anderes hätten tun können, und alle anderen, die sich in der hinteren Sektion des Schiffes aufgehalten haben, waren von Mandel und Amarant geblendet. Also hat niemand das gesehen, was ich gesehen habe: Erdstoß hat sich geöffnet, bis tief in seinen Kern. Und zwei Objekte sind aus dem Planeteninneren hervorgekommen. Eines davon ist davongeflogen, aus der galaktischen Ebene hinaus. Dieses Objekt habe ich in weniger als einer Sekunde aus den Augen verloren. Das andere haben Sie auch gesehen. Das hielt auf Gargantua zu, und Louis Nendas Schiff wurde von diesem Objekt mitgerissen. Eine wichtige Beobachtung, aber etwas anderes ist noch wichtiger! Jeder hat gesagt, dass Erdstoß viel zu ruhig gewesen sei dafür, dass der Gezeitensturm so unmittelbar bevorstand. Klar, ich weiß, dass wir alle das Gefühl hatten, der Planet sei schon wild genug, als wir da unten waren. Aber das war er nicht. Max Perry hat es immer und immer wieder gesagt: Wo ist all die Energie geblieben?
Na ja, darauf wissen wir jetzt eine Antwort. Die Energie wurde transformiert und gespeichert, damit, als der richtige Zeitpunkt gekommen ist, Erdstoß bis in seinen Kern hat aufbrechen und diese beiden Objekte freisetzen können — Raumschiffe, oder was auch immer diese Objekte tatsächlich gewesen sind.
Ich habe zugeschaut, wie das passiert ist, und ich habe den ersten Funken einer Antwort auf eine Frage, die mich seit Monaten beschäftigt hat, schon lange, bevor ich von Wachposten-Tor aufgebrochen bin:
Warum das Dobelle-System?
Warum gerade so ein unbedeutender Ort — ich meine, für ein so bedeutsames Ereignis?
Die Idee, das Dobelle-System aufzusuchen, kam mir, als ich die Konvergenzen von Zeit und Ort sämtlicher Einflüsse berechnet habe, die von allen Artefakten ausgegangen sind. Es gab eine einzige Antwort: Erdstoß während des Gezeitensturms. Aber als ich das den Baumeister-Fachleuten der Allianz vorgetragen habe, haben die mich ausgelacht. Schauen Sie mal, Darya, meinten sie, wir sind ja bereit zu akzeptieren, dass es ein Artefakt im Dobelle-System gibt — ›Nabelschnur‹. Aber das ist doch nur ein wenig bedeutsamer Vertreter der Baumeister-Technologie. Das ist etwas, das wir verstehen können, etwas, das weder besonders geheimnisvoll ist noch besonders groß oder besonders komplex. Es ist doch völlig unsinnig, dass der Fokus der Baumeister-Aktivitäten gerade ein derartig zweitklassiges Konstrukt sein soll, in einem derart wertlosen und unbedeutenden Abschnitt der Galaxis — es tut mir leid, Hans, ich zitiere hier nur, und so denken die Leute der Allianz nun einmal über die Welten des Phemus-Kreises.«