«In Lancaster.«
«Was in aller Welt machst du denn in Lancaster? Und wie bist du dahin gekommen?«
«Wie meinen Sie das?«
«Deborah, was soll das? Simon hat mich von eurem Hotel aus angerufen.«
«Sie sagten doch, Sie hätten sich getroffen.«
«Das war später. Er ist zum Hotel zurückgefahren. Du warst weg, aber dein Mietwagen stand noch da. Er macht sich ziemliche Sorgen.«
«Aber nicht genug, um mich anzurufen.«
«Herrgott noch mal, Deb. Jetzt sei nicht so streng mit dem Mann. Er weiß, dass du wütend auf ihn bist und sowieso nicht rangehen würdest, wenn sein Name auf dem Display erscheint. Also, was machst du in Lancaster? Und wie bist du dahin gekommen?«
Sie hatte nicht vor, Zed Benjamin zu erwähnen.»Alatea Fairclough ist hier. Sie hat sich mit einer Frau getroffen und ist mir ihr zur Uni gefahren. Jetzt warte ich darauf, dass die beiden wieder auftauchen, weil ich mit ihr reden will. Nicht mit Alatea, mit der anderen.«
«Deb. «Sie hörte ihm an, dass er nicht so recht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sollte er an ihre Vernunft appellieren? Auf ihre Zeit als Liebespaar anspielen? Er befand sich ihr gegenüber in einer interessanten Position, dachte sie.
Er sagte:»Simon möchte, dass du mit ihm nach London zurückkehrst. Er macht sich Sorgen.«
«Das wäre im Moment eine unkluge Entscheidung. Ich bin hier etwas Wichtigem auf der Spur.«
«Genau deswegen macht er sich ja solche Sorgen. Du bist schon einmal einem Mörder verdammt nah gekommen.«
Guernsey, dachte sie. So wie Humphrey Bogart und Ingrid Bergman ihr Paris hatten, würden Simon und sie immer ihr Guernsey haben. Okay, sie hatte etwas abbekommen. Aber sie hatte es überlebt. Sie war nicht einmal ansatzweise in Lebensgefahr gewesen. Und die jetzige Situation war weiß Gott nicht mit damals vergleichbar, als sie in einem Erdloch gehockt hatte und jemand eine Handgranate aus dem Krieg in der Hand gehalten hatte. Sie sagte:»Sie sind also nicht derselben Meinung wie die Forensiker?«
«Wovon redest du? Über Simons Schlussfolgerungen bezüglich der Geschehnisse im Bootshaus?«Das Telefongespräch gestaltete sich zunehmend verwirrend für Lynley, dachte Deborah.»Gegen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Todesursache lässt sich schwerlich argumentieren, Deb.«
«Aber man kann die Dinge so oder so betrachten«, sagte sie.
«Da gebe ich dir recht. Und offenbar hegst du irgendeinen Verdacht gegen Alatea Fairclough. Ich habe übrigens Barbara Havers auf sie angesetzt.«
«Sie sehen also …«
«Wie gesagt, ich gebe dir recht. Aber ehrlich gesagt, mache ich mir Sorgen um Simon.«
«Sie glauben, dass er sich irrt?«
«Nicht notwendigerweise. Er macht sich viel zu große Sorgen um dich, und das macht einen manchmal blind für Dinge, die direkt vor einem liegen. Trotz allem kann ich nicht zulassen, dass du …«
«Was meinen Sie mit zulassen?«
«Das war dumm ausgedrückt. So kommen wir nicht weiter. Was soll ich sagen — ich kenne dich. Aber versprich mir wenigstens, dass du auf dich aufpasst.«
«Selbstverständlich. Und Sie?«
«Es gibt hier noch ein paar lose Enden, die ich verknoten muss. Du rufst mich doch an, falls irgendetwas ist, oder?«
«Auf jeden Fall, Inspector. «Sie beendete das Gespräch. Sie schaute Zed Benjamin an, um zu sehen, ob er Verdacht geschöpft hatte. Er war dabei, so tief wie möglich in seinen Sitz zu rutschen, und deutete mit dem Kinn zu dem Invalidenheim. Alatea und ihre Begleiterin fuhren gerade auf den Parkplatz.
Deborah und Zed blieben, wo sie waren. Weniger als eine Minute später kam Alateas Begleiterin um die Ecke und ging zurück ins Gebäude. Kurz darauf bog Alatea vom Parkplatz in die Straße ein und fuhr in Richtung Arnside, wie Deborah erleichtert feststellte. Zeit herauszufinden, was die andere Frau wusste, dachte sie.
«Ich mache mich auf den Weg«, sagte sie zu Zed.
«Ich gebe Ihnen eine Viertelstunde, dann rufe ich Sie auf dem Handy an«, sagte Zed.
«Das können Sie gern tun. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass ich verschwinden könnte, denn ich bin darauf angewiesen, dass Sie mich mit zurück nach Milnthorpe nehmen.«
Zed brummelte vor sich hin. Er sagte, er werde sich in der Zwischenzeit ein bisschen die Füße vertreten, die ihm in den zwei Stunden, die sie in dem engen Auto gewartet hatten, fast eingeschlafen waren. Sie sagte, sie würde ihn auf dem Handy anrufen, falls er sich zu weit von dem Invalidenheim entfernte.
«Oh, da machen Sie sich mal keine Sorgen«, entgegnete Zed.»Ich werde mich ganz in Ihrer Nähe aufhalten.«
Daran zweifelte Deborah nicht im Geringsten. Der Mann würde sich im Gebüsch verstecken und am Fenster lauschen, wenn er könnte. Aber den Kompromiss musste sie eingehen, sagte sich Deborah, stieg aus, eilte über die Straße und betrat das Gebäude.
Sie entschied sich dafür, ganz direkt vorzugehen, denn ohne Polizeiausweis blieb ihr sowieso nichts anderes übrig. Sie trat an den Empfangstresen, setzte ihr charmantestes Lächeln auf und sagte zu dem Mann hinter dem Tresen, offenbar selbst ein ehemaliger Soldat, sie habe gerade eine Frau in das Gebäude gehen sehen,»groß, braunes, im Nacken zusammengebundenes Haar, langer Rock, Stiefel …?«Sie sei sich ganz sicher, dass es sich bei der Frau um eine Klassenkameradin ihrer älteren Schwester handle, und sie würde so gern ein paar Worte mit ihr wechseln. Sie sei sich natürlich darüber im Klaren, dass es eine verrückte Bitte war, womöglich sei die Frau ja jemand ganz anderes. Andererseits …
«Sie meinen bestimmt Lucy«, sagte der alte Mann. Er trug eine Militäruniform, die ihm an seinem feisten Körper klebte.»Sie ist unsere Sozialarbeiterin. Veranstaltet Spiele und Gymnastik und leitet Freizeitgruppen. Geht im Dezember mit uns zum Krippenspiel.«
«Lucy, ja genau! So hieß sie tatsächlich«, rief Deborah aus.»Wäre es vielleicht möglich …«Sie sah den Mann hoffnungsvoll an.
«Einer hübschen Frau kann man doch keinen Wunsch abschlagen«, sagte er.»Woher haben Sie bloß das schöne Haar?«
«Von meiner Großmutter väterlicherseits«, antwortete Deborah.
«Sie sind ein Glückspilz. Ich hab schon immer was übriggehabt für einen Rotschopf. «Er nahm den Telefonhörer ab und gab eine Nummer ein. Einen Augenblick später sagte er:»Hier fragt eine schöne Frau nach Ihnen, Darling«, und lauschte. Dann:»Nein, eine andere. Sie scheinen ja neuerdings sehr beliebt zu sein!«Er lachte über etwas, was die Frau zu ihm gesagt hatte, dann legte er auf und sagte Deborah, Lucy würde gleich da sein.
«Es ist mir echt peinlich«, sagte Deborah.»Aber ich kann mich einfach nicht mehr an Lucys Nachnamen erinnern.«
«Keverne«, sagte der Mann.»Lucy Keverne. So hat sie damals geheißen, und so heißt sie immer noch, denn sie ist nicht verheiratet. Hat nicht mal einen Freund. Ich versuch’s immer wieder bei ihr, aber sie sagt, ich bin ihr zu jung.«
Deborah tat die Vorstellung grinsend ab, so wie es von ihr erwartet wurde, und setzte sich gegenüber dem Tresen auf eine hölzerne Wartebank. Sie überlegte, was in aller Welt sie zu Lucy Keverne sagen sollte, doch sie hatte nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, denn kaum eine Minute später betrat die Frau, die sie in Alatea Faircloughs Begleitung gesehen hatte, die Eingangshalle. Verständlicherweise sah sie Deborah etwas verdattert an. Wahrscheinlich passierte es nicht häufig, dass Wildfremde sie auf ihrer Arbeitsstelle besuchten.
Aus der Nähe sah Deborah, dass die Frau jünger war, als sie aus der Entfernung angenommen hatte. Trotz der feinen grauen Strähnen in ihrem Haar sah man an ihrem Gesicht, dass sie noch keine dreißig war. Sie trug eine modische Brille, die ihre hübschen Wangenknochen betonte. Außerdem trug sie ein modernes Hörgerät, wie Deborah auffiel. Hätte sie ihr langes Haar offen getragen, wären die feinen Kabel, die in ihren Ohren verschwanden, überhaupt nicht aufgefallen.