«Ja.«
«Das ist bestimmt … unglaublich teuer.«
«Nicht teurer, als selbst ein Kind zur Welt zu bringen, abgesehen von einer In-Vitro-Befruchtung. Eine Leihmutter darf nicht viel mehr dafür verlangen. Alles andere würde gegen das Gesetz verstoßen.«
«Man muss also eine Frau finden, die außergewöhnlich viel Mitgefühl aufbringt«, sagte Deborah.»Die bereit ist, eine Schwangerschaft auf sich zu nehmen und sich dann von dem Kind zu trennen. Das müsste aber eine ganz außergewöhnliche Person sein.«
«Ja, das haben Sie vollkommen recht. «Lucy Keverne stand auf und reichte Deborah die Hand.»Ich hoffe, ich habe Ihnen weiterhelfen können.«
In gewisser Weise hatte sie das, dachte Deborah. Aber andererseits hatte sie auch wieder nicht viel erfahren. Sie stand auf und bedankte sich. Immerhin wusste sie jetzt mehr als vorher. Was das alles mit dem Tod von Ian Cresswell zu tun hatte — oder ob es überhaupt etwas damit zu tun hatte —, wusste sie jedoch immer noch nicht.
Der Name Raul Montenegro brachte Barbara Havers ein paar Schritte weiter. Sie fand ein Foto von dem Mann und dazu einen Artikel, der natürlich auf Spanisch war. Nachdem sie ein paar Links in dem Artikel angeklickt hatte, hatte sie schließlich ein Bild von Alatea Vasquez del Torres vor sich. Ein Rasseweib, dachte Barbara. Sah aus wie eine südamerikanische Filmschauspielerin. Schwer vorstellbar, was sie am Arm eines Typen zu suchen hatte, der mit all seinen Warzen aussah wie eine Kröte.
Das also war Raul Montenegro. Er war gut zwanzig Zentimeter kleiner als Alatea und mindestens dreißig Jahre älter. Er trug eine grässliche Elvis-Presley-Perücke und hatte eine monströse Warze auf der Nase. Aber er grinste wie ein Honigkuchenpferd, und Barbara hatte den Eindruck, dass sich in seinem Gesicht Besitzerstolz ausdrückte. Natürlich konnte sie das nicht mit Sicherheit wissen, doch es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Sie druckte die Seite aus und nahm ihr Handy aus der Tasche. Dann rief sie Azhar an der Uni an.
Selbstverständlich werde er ihr helfen, sagte er, als sie ihn an die Strippe bekam. Jemanden zu finden, der Spanisch sprach, dürfte kein großes Problem sein.
Auf die Frage, ob sie nach Bloomsbury kommen solle, antwortete Azhar, er werde ihr Bescheid geben. Er müsse die Person, die er um die Übersetzung bitten wolle, erst kontaktieren. Wo Barbara denn gerade sei?
«In der Höhle des Löwen«, antwortete sie.
«Ah«, sagte er,»also bei der Arbeit. Sollen wir dann lieber zu Ihnen kommen?«
«Im Gegenteil«, erwiderte Barbara.»Ich muss machen, dass ich hier wegkomme.«
In dem Fall werde er sie so bald wie möglich anrufen, damit sie einen Treffpunkt verabreden könnten, sagte Azhar. Dann fügte er noch hinzu:»Ich muss mich auch entschuldigen.«
«Wieso?«, fragte Barbara, aber im selben Augenblick fiel es ihr wieder ein: sein morgendlicher Streit mit Angelina.»Oh«, sagte sie.»Sie meinen wegen heute Morgen. Na ja, solche Dinge passieren. Man möchte ja immer meinen, die Liebe überwindet alles … In Büchern und in Filmen sind alle immer glücklich und zufrieden bis ans Lebensende. Und so weiter. Ich kenn mich auf dem Gebiet nicht aus, doch nach allem, was ich so mitbekomme, ist der Weg zum zufriedenen Glück bis ans Lebensende mit Schlaglöchern übersät. Scheint mir das Klügste zu sein, sich an das zu halten, was man hat, auch wenn es nicht immer leicht ist. Ich meine, was bleibt einem denn anderes als die Menschen, die man liebt?«
Er schwieg. Im Hintergrund waren Stimmen und Geschirrklappern zu hören. Wahrscheinlich hatte sie ihn in einer Cafeteria oder einem Restaurant erwischt. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie seit Stunden nichts gegessen hatte.
Schließlich sagte er:»Ich rufe Sie so bald wie möglich an.«
«Alles klar. Und Azhar …?«
«Ja?«
«Danke für Ihre Hilfe.«
«Ist mir ein Vergnügen.«
Barbara überlegte, wie wahrscheinlich es war, dass sie ihrer Chefin noch einmal über den Weg lief, wenn sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem machte. Wenn sie etwas einigermaßen Gesundes zu sich nehmen wollte, würde sie sich in die Kantine begeben müssen. Dann gab es natürlich noch die Automaten. Oder die Möglichkeit, den Yard zu verlassen und in irgendeinem Restaurant auf Azhars Anruf zu warten. Oder sie könnte erst mal eine rauchen, ein Gedanke, der ihr sehr verlockend erschien. Dazu müsste sie sich ins Treppenhaus schleichen und hoffen, dass sie nicht erwischt wurde. Oder sie müsste nach draußen gehen. Entscheidungen über Entscheidungen, dachte Barbara. Am Ende entschloss sie sich, sich zusammenzureißen und noch ein bisschen im Internet zu recherchieren. Vielleicht konnte sie ja noch etwas über Raul Montenegro in Erfahrung bringen.
Tim würde diesmal ohne Protest in die Schule gehen, denn heute musste Kaveh ihn fahren. Es war die einzige Möglichkeit, Kaveh allein zu erwischen. Und das war unbedingt nötig, denn solange Gracie in der Nähe war, konnte er unmöglich mit ihm reden. Gracie war jetzt schon total durcheinander. Sie musste nicht auch noch erfahren, dass Kaveh vorhatte, seine Eltern und seine Ehefrau nach Bryanbarrow zu holen und sich die Altlasten namens Cresswell vom Hals zu schaffen.
Und so überraschte er Kaveh, indem er zeitig aufstand und sich fertig machte für die Margaret Fox School, die Sonderschule für unheilbar Verrückte wie ihn. Er stellte alles auf den Küchentisch, was Gracie gern zum Frühstück aß, und machte ihr zum Mitnehmen ein Sandwich mit Tunfischsalat, das er zusammen mit einem Apfel, einer kleinen Tüte Kartoffelchips und einer Banane in eine Tupperdose packte. Sie bedankte sich distanziert würdevoll, woraus er schloss, dass sie immer noch um Bella trauerte. Also ging er, anstatt zu frühstücken, in den Garten, grub die Puppe aus und stopfte sie in seinen Rucksack, um sie mit nach Windermere zu nehmen und dort reparieren zu lassen. Den Puppensarg legte er zurück in das kleine Grab und schaufelte es wieder zu. Dann eilte er ins Haus und stopfte sich noch schnell eine Scheibe Toast mit Marmite in den Mund.
Solange Gracie mit im Auto saß, sagte Tim kein Wort. Nachdem sie in Crosthwaite, wo sie zur Schule ging, ausgestiegen war, lehnte er sich gegen die Beifahrertür und musterte Kaveh. Er hatte das Bild vor Augen, wie Kaveh es mit seinem Vater trieb, bis die Körper der beiden im Dämmerlicht vor Schweiß glänzten. Dazu brauchte er noch nicht einmal seine Fantasie anzustrengen, denn er hatte die beiden einmal durch den Türspalt beobachtet und gesehen, wie sie in Ekstase aufs Bett gesunken waren und sein Vater heiser gestöhnt hatte, Gott, ja! Der Anblick hatte ihm den Magen umgedreht und mit Abscheu und Hass erfüllt. Aber es hatte auch etwas anderes in ihm berührt, etwas, womit er nicht gerechnet hatte, und einen Moment lang hatte das Blut wie wild in seinen Adern pulsiert. Und deswegen hatte er sich hinterher mit einem Taschenmesser eine Schnittwunde zugefügt und Essig in die Wunde geträufelt, um sein erhitztes Blut von der Sünde zu reinigen.
Er konnte sich sehr wohl vorstellen, wie alles angefangen hatte. Kaveh war ein gutaussehender Typ, und einem Perversen wie seinem Vater musste er einfach gefallen haben. Selbst wenn Kaveh, wie es nun den Anschein hatte, selbst gar nicht so pervers war.
Als sie sich Winster näherten, schaute Kaveh Tim kurz an. Offenbar spürte er den Abscheu, den Tim für ihn empfand.»Gut, dass du heute zur Schule gehst«, sagte er ein bisschen steif.»Dein Dad würde sich freuen.«
«Mein Dad«, sagte Tim,»ist tot.«
Kaveh erwiderte nichts. Noch einmal schaute er Tim an, aber die Straße war eng und kurvig, und so konnte er wirklich nur einen ganz kurzen Blick riskieren, um einzuschätzen, was Tim als Nächstes tun oder sagen würde.
«Was dir wohl sehr zupasskommt«, fügte Tim hinzu.
«Was?«
«Dass Dad tot ist. Was Besseres konnte dir doch gar nicht passieren.«
Zu seiner Überraschung bog Kaveh in eine Haltebucht ab und machte eine Vollbremsung. Sie befanden sich mitten im Berufsverkehr, jemand hupte und zeigte Kaveh den Stinkefinger, aber Kaveh bemerkte es nicht, oder vielleicht war es ihm auch egal.