«Wovon redest du?«, wollte Kaveh wissen.
«Du meinst, warum es gut für dich ist, dass mein Dad tot ist?«
«Ganz genau das meine ich. Wovon redest du?«
Tim schaute aus dem Fenster. Es gab nicht viel zu sehen. Sie standen neben einer Feldsteinmauer, aus der Farnwedel wuchsen wie Straußenfedern an Frauenhüten. Wahrscheinlich gab es hinter der Mauer Schafe, doch die konnte er nicht sehen, nur am Horizont einen Berggipfel mit einer Wolkenkrone.
«Ich habe dich etwas gefragt«, sagte Kaveh.»Und ich hätte gern eine Antwort.«
«Ich muss dir keine Fragen beantworten«, entgegnete Tim.»Dir nicht und auch sonst keinem.«
«Doch, das musst du, wenn du Anschuldigungen erhebst«, sagte Kaveh.»Und genau das hast du getan. Du kannst versuchen, so zu tun, als hättest du es nicht getan, aber damit wirst du nicht weit kommen. Also sag mir gefälligst, was du meinst.«
«Warum fährst du nicht weiter?«
«Weil ich es nicht muss.«
Tim hatte diese Konfrontation herbeigewünscht, jetzt jedoch war er sich nicht mehr so sicher, ob er sie wollte. Er saß allein in einem Auto mit dem Mann, für den sein Vater seine Familie zerstört hatte. War das nicht gefährlich? Ließ nicht die Tatsache, dass Kaveh Mehran es fertiggebracht hatte, an Tims Geburtstag bei ihnen aufzutauchen und die Karten auf den Tisch zu legen, darauf schließen, dass er noch zu ganz anderen Dingen fähig war?
Nein, sagte sich Tim. Er hatte keine Angst. Denn wenn irgendeiner Grund zur Angst haben musste, dann war es Kaveh Mehran. Der Mann war ein Lügner, ein Betrüger, ein Familienzerstörer und alles andere dazu.
«Wann ist denn die Hochzeit, Kaveh?«, fragte er.»Und was willst du deiner Zukünftigen erzählen? Hast du vor, sie darüber aufzuklären, was du hier so alles getrieben hast? Oder ist das der Grund, warum du Gracie und mich loswerden willst? Damit sie nichts von alldem erfährt? Ich nehm an, dass wir beide nicht zur Hochzeit eingeladen werden, das wär wohl ein bisschen zu viel verlangt. Dabei würde Gracie bestimmt gern Brautjungfer sein.«
Kaveh sagte nichts darauf. Tim rechnete es ihm hoch an, dass er erst nachdachte, anstatt ihn sofort anzuschnauzen, das gehe ihn alles nichts an. Wahrscheinlich überlegte er krampfhaft, wie Tim es geschafft hatte, die Wahrheit rauszufinden.
«Hast du meiner Mutter eigentlich schon Bescheid gesagt?«, fragte Tim.»Denn wenn nicht, kann ich dir gleich flüstern, dass sie bestimmt nicht begeistert sein wird.«
Tim wunderte sich über das, was er empfand, während er das alles sagte. Er wusste nicht, was das war. Es war ein Gefühl, das ihn total vereinnahmte, und er wollte, dass es wegging. Er fand es furchtbar, wenn so etwas passierte. Er fand es zum Kotzen, wenn er auf die Worte und Taten anderer Leute reagierte. Er wäre gern wie eine Glasscheibe, an der alles abprallte wie Regen, und es machte ihn fast verrückt, dass ihm das bisher noch nicht gelungen war. Es war, als wäre er auf ewig verflucht, dazu verdammt, in einer Hölle zu leben, in der er der Gnade der anderen ausgeliefert war und nicht umgekehrt.
«Gracie und du, ihr gehört zu eurer Mutter«, sagte Kaveh schließlich.»Ich habe euch gern bei mir. Und ich würde euch bei mir behalten, aber …«
«Aber das würde deiner Frau wohl nicht gefallen«, schnaubte Tim.»Außerdem würde es ein bisschen voll im Haus, da deine Eltern ja auch einziehen sollen. Mann, das ist echt perfekt gelaufen, was? Fast als hättest du es genau so geplant.«
Kaveh sah ihn durchdringend an.»Wovon genau redest du?«, fragte er.
Etwas Unerwartetes schwang in den Worten mit, etwas wie Wut, aber es war mehr als Wut. In dem Moment dachte Tim, dass Wut gefährlich sein konnte und dass es gefährlich werden konnte, wenn Leute wie Kaveh in Wut gerieten und sich vergaßen. Aber das war ihm egal. Sollte der Typ ruhig ausrasten, na und? Etwas Schlimmeres, als er bereits angerichtet hatte, konnte er sowieso nicht tun.
«Ich rede davon«, sagte Tim,»dass du heiraten willst. Wahrscheinlich sagst du dir, dass die Arschfickerei mit meinem Dad dir eingebracht hat, was du wolltest, und dass du dir jetzt eine Frau nehmen kannst und alles. Natürlich hast du ein Problem, solange Gracie und ich da sind, weil, ich könnte dich ja, wenn deine Frau und deine Eltern zufällig neben dir stehen, beiläufig fragen: ›Seit wann stehst du denn auf Frauen, Kaveh?‹«
«Du weißt nicht, wovon du redest«, sagte Kaveh. Er drehte sich nach hinten, um den Verkehr zu beobachten, und schaltete den Blinker ein.
«Ich rede davon, dass du dich von meinem Dad hast ficken lassen«, sagte Tim.»Und zwar jede Nacht. Glaubst du im Ernst, dass du eine Frau findest, die dich noch heiratet, wenn sie davon erfährt, Kaveh?«
«›Jede Nacht‹?«, wiederholte Kaveh stirnrunzelnd.»›Von deinem Dad ficken lassen‹? Wovon zum Teufel redest du, Tim?«Er machte Anstalten, sich in den Verkehr einzufädeln.
Blitzschnell streckte Tim die Hand aus und drehte den Zündschlüssel um.»Dass du mit meinem Dad gefickt hast, davon rede ich.«
Kaveh sah ihn an.»Ficken … Was ist eigentlich los mit dir? Was geht in deinem Kopf vor? Wie kommst du auf die Idee, dass dein Vater und ich …?«Kaveh setzte sich so hin, als richtete er sich auf ein längeres Gespräch mit Tim ein.»Dein Vater war mir ein guter, lieber Freund, Tim. Ich habe große Achtung vor ihm gehabt, und wir haben uns gemocht, wie das bei guten Freunden üblich ist. Aber dass da mehr gewesen sein soll … Dass er und ich … Glaubst du etwa, dein Vater und ich wären ein homosexuelles Paar gewesen? Wie kannst du nur so etwas annehmen? Er hat mir ein Zimmer in seinem Haus vermietet, und ich war sein Untermieter, mehr nicht.«
Tim starrte Kaveh entgeistert an. Der Mann wirkte vollkommen ernst. Er log so dreist und so geschickt, dass Tim einen Augenblick lang tatsächlich versucht war zu glauben, er und alle anderen hätten sich in Bezug auf Kaveh und seinen Vater geirrt, vor allem in Bezug auf das, was die beiden miteinander getrieben hatten. Aber Tim war dabei gewesen, als sein Vater vor der versammelten Familie erklärt hatte, dass er Kaveh Mehran liebte, er hatte seinen Vater mit Kaveh zusammen gesehen, und deswegen kannte er die Wahrheit.
«Ich hab euch beobachtet«, sagte er.»Durch den Türspalt. Du auf allen vieren und mein Vater, der dich in den Arsch gefickt hat … Das hast du nicht gewusst, stimmt’s? Das macht deine Situation ein bisschen komplizierter, nicht wahr? Ich hab euch beobachtet, okay? Ich hab euch beobachtet!«
Kaveh wandte sich ab. Dann seufzte er. Tim dachte schon, er würde endlich alles zugeben und ihn anflehen, seinen Eltern und seiner Zukünftigen nichts zu verraten. Aber Kaveh überraschte ihn erneut. Er sagte:»In deinem Alter hatte ich auch solche Träume. Sie kommen einem sehr real vor, nicht wahr? Man nennt sie Wachträume. Sie entstehen meist beim Einschlafen, und sie wirken so echt, dass man hinterher glaubt, man hätte das alles tatsächlich erlebt. Solche Träume führen dazu, dass die Leute alles Mögliche glauben: dass sie von Außerirdischen entführt wurden, dass sie jemanden ins Zimmer haben schleichen sehen, dass sie Sex mit einem Elternteil, einem Lehrer oder einem Freund hatten. Dabei hat sich das alles in ihrem Schlaf abgespielt. Genau wie bei dir, als du geglaubt hast, du hättest deinen Vater und mich beim Sex beobachtet.«
Tims Augen weiteten sich. Er wollte etwas sagen, doch Kaveh kam ihm zuvor.
«Und dass dein Traum, in dem du deinen Vater und mich gesehen hast, mit Sex zu tun hatte, hat mit deinem Alter zu tun, Tim. Bei vierzehnjährigen Jungs spielen die Hormone verrückt. Das ist ganz normal, das gehört zur Pubertät. In dem Alter träumen Jungen dauernd von Sex und ejakulieren sogar im Schlaf. Das ist ihnen peinlich, wenn niemand ihnen erklärt, dass das vollkommen normal ist. Aber dein Vater hat dir das doch erklärt, oder? Ganz bestimmt hat er das. Oder deine Mutter?«