Tim hatte das Gefühl, gleich zu explodieren, er wollte sich nicht zum Narren halten lassen.»Du verdammter Lügner!«, schrie er und spürte zu seinem Entsetzen, wie ihm die Tränen kamen. Plötzlich wurde ihm sonnenklar, wie es ausgehen würde, egal, was er tat oder was er Kaveh androhte oder was er irgendjemandem erzählte, vor allem Kavehs Eltern und seiner zukünftigen Frau.
Und es gab niemand anderen, der diesen Leuten die Wahrheit über Kaveh sagen konnte. Und selbst wenn es jemanden gäbe, der es könnte, würden Kavehs Verwandte gar nicht daran interessiert sein, sich von irgendeinem Wildfremden, der nicht mal Beweise für seine Behauptungen hatte, die Augen öffnen zu lassen. Außerdem war Kaveh der beste Lügner, den Tim je erlebt hatte. Tim konnte die Wahrheit sagen, er konnte schreien und toben, es würde alles nichts nützen, denn Kaveh würde ihm jedes Wort im Mund umdrehen.
Ihr dürft es Tim nicht übel nehmen, würde er mit ernster Miene sagen. Nehmt ihn einfach nicht ernst. Er geht auf eine Sonderschule, eine Schule für gestörte Kinder. Es kommt vor, dass er merkwürdige Sachen behauptet, seltsame Dinge tut … Zum Beispiel hat er der Lieblingspuppe seiner kleinen Schwester die Arme und Beine ausgerissen, und vor Kurzem hab ich ihn dabei erwischt, wie er den Enten im Bach den Hals umdrehen wollte.
Und die Leute würden ihm natürlich glauben. Erstens glaubten die Leute sowieso immer, was sie glauben wollten, und zweitens stimmte das alles ja tatsächlich. Es war, als hätte Kaveh die ganze Sache von Anfang an geplant, von dem Moment an, als er Tims Vater kennengelernt hatte.
Tim schnappte sich seinen Rucksack und machte die Beifahrertür auf.
«Was machst du da?«, fragte Kaveh.»Bleib hier. Du musst in die Schule!«
«Scher dich zum Teufel«, sagte Tim und knallte die Tür zu.
Raul Montenegro war jedenfalls keine Sackgasse, dachte Barbara. Sie hatte sich eine Stunde lang von Link zu Link geklickt und so viele Artikel über den Mann gefunden, dass sie mehrere Meter Papier gebraucht hätte, um sie alle auszudrucken. Sie musste sich also für einige wenige entscheiden. Natürlich waren sämtliche Artikel auf Spanisch, aber immerhin hatte Barbara so viel verstanden, dass der Mann ein reicher Industrieller war und dass er in Mexiko irgendetwas mit Erdgas zu tun hatte. Offenbar war Alatea Fairclough, geborene Alatea Vasquez del Torres, aus Argentinien nach Mexiko gegangen, auch wenn die Gründe dafür Barbara noch nicht klar waren. Alatea war entweder aus einem Ort, den Barbara noch nicht ermittelt hatte, nach Mexiko gezogen. Oder, was wahrscheinlicher war, wenn man die Reaktion der Frau in Argentinien bedachte, mit der Barbara zu telefonieren versucht hatte, sie war irgendwann aus Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos verschwunden. Entweder war sie eine Nichte oder Kusine oder sonstige Verwandte des dortigen Bürgermeisters oder, was Barbara für wahrscheinlicher hielt, sie war mit einem von dessen Söhnen verheiratet gewesen. Das würde zumindest die Aufregung am anderen Ende der Leitung erklären, als es Barbara endlich gelungen war, im Haus des Bürgermeisters jemanden an die Strippe zu bekommen. Falls Alatea aus einer Ehe mit einem der Söhne des Bürgermeisters geflüchtet war, dann würde dieser Bürgermeistersohn sicherlich wissen wollen, wo sie steckte. Vor allem, sagte sich Barbara, falls die beiden immer noch verheiratet sein sollten.
Das waren natürlich alles Spekulationen, dachte Barbara. Azhar musste ihr unbedingt jemanden besorgen, der Spanisch lesen und ihr das Zeug übersetzen konnte, aber er hatte sich immer noch nicht bei ihr gemeldet. Also verfolgte sie weiterhin mühsam alle Spuren, die sie hatte, und schwor sich, bei Winston Nkata einen Intensivkurs in Internetrecherche zu belegen.
Sie fand heraus, dass Raul Montenegro steinreich war. Das entnahm sie einem online-Artikel von Hola!, dem Mutterschiff der englischen Zeitschrift Hello!. Beide Zeitschriften brachten in erster Linie Hochglanzfotos von Sternchen und Berühmtheiten mit strahlend weißen Gebissen, so dass man eine Sonnenbrille brauchte, wenn man sie betrachten wollte. Und natürlich trugen sie alle Designerklamotten und ließen sich in ihren palastartigen Villen oder — falls das eigene Heim für die Leser des jeweiligen Blatts zu bescheiden war — in teuren Szene-Hotels ablichten. Raul Montenegro mit der grauenhaften Nase war bereits mehrmals in Hola! porträtiert worden. Auf den Fotos posierte er auf seinem Anwesen irgendwo an der mexikanischen Küste, inmitten von Palmen und exotischer Vegetation und jeder Menge attraktiver junger Frauen und Männer, die sich an seinem Swimmingpool räkelten. Ein weiteres Foto zeigte Montenegro am Bug seiner Yacht, um ihn herum mehrere jugendliche Crewmitglieder in sehr engen weißen Hosen und genauso engen blauen T-Shirts. Barbara schloss daraus, dass Montenegro sich gern mit Jugend und Schönheit umgab, da auf sämtlichen Fotos nur junge Menschen zu sehen waren, die entweder schön oder umwerfend schön waren. Wo, fragte sie sich, während sie die Fotos betrachtete, kamen all diese schönen Menschen her? So viele braun gebrannte, schlanke, geschmeidige, appetitliche Menschen bekam man wahrscheinlich sonst nur bei einem Casting Call zu sehen. Was Barbara natürlich auf die Frage brachte, ob diese jungen Leute sich tatsächlich um irgendeine Rolle bewarben. Und falls dem so war, konnte sie sich auch schon denken, um was es sich handelte. Geld besaß doch immer eine unglaubliche Anziehungskraft. Und Raul Montenegro schien regelrecht in Geld zu schwimmen.
Interessant war allerdings, dass Alatea Fairclough geborene Soundso auf keinem einzigen der Fotos in Hola! auftauchte. Barbara verglich das Erscheinungsdatum der Zeitschrift mit dem Datum des Artikels, zu dem das Foto gehörte, auf dem Alatea an Montenegros Arm hing. Die Fotos in Hola! waren älter. Vielleicht hatte Montenegro sich ja geändert, nachdem er Alatea kennengelernt hatte. Alatea besaß die Art Schönheit, die es einer Frau erlaubte, die Gesetze zu bestimmen: Wenn du mich willst, musst du auf alle anderen verzichten.
Was Barbara wieder an die Situation in Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos denken ließ, wie auch immer diese Situation aussehen mochte. Genau das musste sie herausfinden. Sie druckte den Hola! — Artikel aus und nahm sich noch einmal den Bürgermeister Ésteban Vega y de Vasquez von Santa María und so weiter vor. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte, Señor, dachte sie. Im Moment würde mich alles interessieren.
«Ich habe Barbara Havers von deinem … wie soll ich es nennen, Thomas? … Fall … abgezogen.«
Lynley hatte am Straßenrand angehalten, um den Anruf entgegenzunehmen. Er war auf dem Weg nach Ireleth Hall, um die Ergebnisse, zu denen St. James gekommen war, mit Bernard Fairclough zu besprechen.»Isabelle«, sagte er mit einem Seufzer.»Du bist wütend auf mich. Aus gutem Grund. Es tut mir furchtbar leid.«
«Tja. Hm. Mir auch. Barbara hat übrigens Winston in den ›Fall‹ hineingezogen. War das in deinem Auftrag? Ich habe das sofort unterbunden, aber es hat mir gar nicht gefallen, sie in trauter Zweisamkeit über einen Computer gebeugt in der Bibliothek anzutreffen.«
Lynley betrachtete seine Hand auf dem Lenkrad des Healey Elliott. Er trug immer noch seinen Ehering und hatte in den Monaten seit Helens Tod nicht ein einziges Mal daran gedacht, ihn abzulegen. Es war ein schlichter goldener Ring, und auf der Innenseite waren ihre und seine Initialen sowie das Datum ihrer Hochzeit eingraviert.
Er wünschte sich nichts sehnlicher, als Helen wiederzuhaben. Diese Sehnsucht würde jede seiner Entscheidungen bestimmen, bis er irgendwann bereit war, Helen endlich und endgültig loszulassen und ihren Tod zu akzeptieren, anstatt sich Tag für Tag gegen die grausige Erkenntnis zu sträuben. Selbst im Zusammensein mit Isabelle war Helen immer da: mit ihrem Esprit und ihrem gesamten wunderbaren Wesen. Niemand war daran schuld, am wenigsten Isabelle. Es war einfach so.