Er sagte:»Nein. Ich habe Winston nicht um Unterstützung gebeten. Aber mach Barbara bitte nicht für all das verantwortlich, Isabelle. Sie versucht nur, mir ein paar Informationen zu besorgen.«
«Wegen dieser Sache in Cumbria.«
«Ja, wegen dieser Sache in Cumbria. Ich dachte, da sie ja noch ein paar Urlaubstage hatte …«
«Ich weiß, was du gedacht hast.«
Er wusste, dass Isabelle sich verletzt fühlte und sich zugleich darüber ärgerte, dass sie sich verletzt fühlte. Menschen in solchen Situationen hatten das Bedürfnis, andere zu verletzen, das war ihm klar, und das konnte er verstehen. Aber das alles war im Moment vollkommen unnötig, und das wollte er ihr so gern begreiflich machen.»All das hat nichts mit Verrat zu tun.«
«Wie kommst du auf die Idee, dass ich es als solchen auffassen könnte?«
«Weil ich es an deiner Stelle so auffassen würde. Du bist die Chefin. Ich habe kein Recht, deine Mitarbeiter um Unterstützung zu bitten. Und hätte ich eine andere Möglichkeit gehabt, mir die notwendigen Informationen in so kurzer Zeit zu beschaffen, dann hätte ich Barbara Havers aus dem Spiel gelassen, glaub mir.«
«Aber es gab eine andere Möglichkeit, und das ist es, was mich aufbringt. Dass du die andere Möglichkeit nicht gesehen hast und offenbar immer noch nicht siehst.«
«Du meinst, ich hätte mich an dich wenden sollen. Das ging leider nicht, Isabelle. Hillier hat das von Anfang an klargestellt. Ich sollte den Fall übernehmen, und niemand sollte davon erfahren.«
«Niemand.«
«Du meinst Barbara. Ich habe ihr nichts davon erzählt. Sie ist von selbst draufgekommen, weil ich sie um Informationen über Bernard Fairclough gebeten habe. Als sie angefangen hat, über den Mann zu recherchieren, hat sie zwei und zwei zusammengezählt. Sag mir eins: Was hättest du an meiner Stelle getan?«
«Ich möchte annehmen, dass ich dir vertraut hätte.«
«Weil ich dein Liebhaber bin?«
«Ja. So in etwa.«
«Aber das geht nicht«, sagte er.»Isabelle, denk doch mal nach.«
«Ich tue fast nichts anderes. Und das ist ein echtes Problem, wie du dir vorstellen kannst.«
«Ja, das kann ich. «Er wusste, was sie meinte, doch er wollte den Streit abwenden, auch wenn er nicht genau wusste, warum eigentlich. Wahrscheinlich hatte es mit der schrecklichen Leere zu tun, die er seit Helens Tod empfand, und damit, dass Menschen als geselligen Geschöpfen die Einsamkeit nicht guttat. Aber das war wahrscheinlich die krasseste Form der Selbsttäuschung, gefährlich sowohl für ihn als auch für Isabelle. Trotzdem sagte er:»Wir müssen das trennen, Isabelle, und zwar haarscharf. Das eine ist unser Beruf, und das andere ist unser Privatvergnügen. Wenn du die Stelle als Superintendent bekommst, wirst du immer wieder über Wissen verfügen — durch Hillier oder sonst wen —, in das du mich nicht einweihen darfst.«
«Ich würde es trotzdem tun.«
«Nein, Isabelle, das würdest du nicht.«
«Hast du es getan?«
«Hab ich was getan?«
«Ich meine Helen, Tommy. Hast du Helen immer alles erzählt?«
Wie sollte er ihr das erklären? Er hatte Helen nichts zu erzählen brauchen, weil Helen immer alles gewusst hatte. Sie war zu ihm ins Bad gekommen, hatte sich ein bisschen Massageöl auf die Hände geträufelt und angefangen, ihm den Rücken zu massieren und dabei gemurmelt:»Ah, David Hillier schon wieder, hm? Wirklich, Tommy. Ich glaube, noch nie hat sich ein Ritterschlag so inflationär auf das Selbstwertgefühl eines Mannes ausgewirkt. «Dann hatte er ihr vielleicht etwas erzählt, vielleicht auch nicht, aber der springende Punkt war, dass es für Helen keine Rolle gespielt hatte. Was er sagte, war für sie vollkommen unwichtig gewesen. Sie hatte nur interessiert, wer er war.
Das Schlimmste war, dass sie ihm so sehr fehlte. Er konnte es ertragen, dass er derjenige gewesen war, der die Entscheidung getroffen hatte, wann die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt wurden. Er konnte es ertragen, dass sie ihr gemeinsames Kind mit ins Grab genommen hatte. Er gewöhnte sich mit der Zeit daran, dass ihr Tod ein sinnloser Zufallsmord gewesen war, der aus dem Nichts heraus geschehen und ohne jeden Sinn gewesen war. Aber die Leere, die ihr Tod in seinem Leben hinterlassen hatte, war so unerträglich, dass er manchmal nahe dran war, Helen dafür zu hassen.
Isabelle sagte:»Was soll ich aus deinem Schweigen schließen?«
«Nichts. Ich habe nur nachgedacht.«
«Und die Antwort?«
«Worauf?«Er hatte tatsächlich vergessen, was sie ihn gefragt hatte.
«Helen.«
«Ich wünschte wirklich, es gäbe eine Antwort«, sagte er.
Dann, völlig abrupt, wie es ihre Art war, zog sie andere Saiten auf. Es war ein Wesenszug an ihr, der ihn zugleich irritierte und anzog.»Gott, verzeih mir, Tommy«, sagte sie leise.»Ich mache dich nur fertig. Das hast du nicht verdient. Ich rufe dich an, obwohl ich eigentlich andere Dinge zu tun habe. Das ist der falsche Zeitpunkt für dieses Gespräch. Ich war sauer wegen Winston, aber daran bist du nicht schuld. Wir unterhalten uns später.«
«Ja«, sagte er.
«Kannst du schon sagen, wann du wieder zurück sein wirst?«
Das, dachte er, war ironischerweise die entscheidende Frage. Er schaute aus dem Fenster. Er befand sich auf der A 592 in einer dicht bewaldeten Gegend am Lake Windermere. Ein paar Blätter klammerten sich störrisch an die Äste von Ahornbäumen und Birken, aber dem nächsten stärkeren Wind würden sie nicht mehr standhalten.»Ich hoffe, bald. Vielleicht schon morgen. Oder übermorgen. Simon war ein paar Tage hier, und er hat seine forensischen Untersuchungen abgeschlossen. Deborah verfolgt noch eine Spur. Ich muss so lange hierbleiben, bis sie diese Sache beendet hat. Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas mit dem Fall zu tun hat, aber sie hat sich nicht davon abbringen lassen, und ich kann sie nicht hier oben allein lassen.«
Isabelle schwieg eine Weile. Er wartete ab, wie sie darauf reagieren würde, dass er Simon und Deborah erwähnt hatte.»Es freut mich, dass die beiden dir helfen konnten«, sagte sie leichthin, aber er wusste, was es sie kostete, es so klingen zu lassen.
«Ja«, erwiderte er.
«Wir reden, wenn du wieder hier bist.«
«Machen wir.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, blieb er noch eine Weile in seinem Wagen sitzen und starrte ins Leere. Es gab Dinge und Gefühle, die er würde klären müssen. Doch zuerst musste er diesen Fall in Cumbria lösen.
Er fädelte sich wieder in den Verkehr ein und setzte seinen Weg nach Ireleth Hall fort. Das Tor stand offen. Als er die Einfahrt hochfuhr, sah er, dass vor dem Haus ein Auto stand. Er erkannte es als eins der beiden Autos, die er in Great Urswick gesehen hatte, und schloss daraus, dass Faircloughs Tochter Manette zu Besuch war.
Sie war jedoch nicht allein gekommen, wie er bald feststellte, sondern in Begleitung ihres Exmannes. Die beiden saßen zusammen mit den Faircloughs in der großen Eingangshalle, und alle waren nach einem Besuch von Nicholas Fairclough noch immer ganz erschüttert, wie er von Bernard erfuhr, der ihn eingelassen hatte.
Valerie ergriff das Wort:»Ich fürchte, wir waren Ihnen gegenüber nicht ganz ehrlich, Inspector. Und es sieht ganz so aus, als wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, Ihnen die Wahrheit zu sagen.«
Lynley schaute Fairclough an. Fairclough wandte sich ab. Lynley begriff sofort, dass man ihn benutzt hatte, und er spürte, wie ihn die Wut packte.»Wenn Sie die Güte hätten, mir das zu erklären«, sagte er zu Valerie.
«Selbstverständlich. Ich bin der Grund, warum man Sie nach Cumbria gebeten hat, Inspector. Außer Bernard hat niemand davon gewusst. Aber jetzt wissen es auch Manette, Freddie und Nicholas.«
Einen verrückten Augenblick lang rechnete Lynley tatsächlich damit, dass die Frau als Nächstes den Mord am Neffen ihres Mannes gestehen würde. Immerhin wäre die Kulisse dafür perfekt. Es erinnerte ihn an die Sorte Krimis, die an jedem Bahnhof verkauft wurden. Mit Titeln wie Tee im Pfarrhaus und Mord in der Bibliothek. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, warum Valerie plötzlich ein Geständnis ablegen wollte, aber er hatte auch nie verstanden, warum die Figuren in diesen Krimis in aller Seelenruhe im Wohnzimmer oder der Bibliothek saßen, wohl wissend, dass am Ende der Ausführungen des Detektivs einer von ihnen als der Schuldige dastehen würde. Keiner von ihnen verlangte jemals nach einem Anwalt. Das hatte Lynley nie verstanden.