Mignon wandte sich an ihren Vater. Sie war sich dessen bewusst, dass sie alle Trümpfe in der Hand hielt.»Ist das in deinem Sinne?«, fragte sie ihn.
«Mignon«, seufzte er.
«Sprich dich aus, Dad. Es ist der perfekte Zeitpunkt dafür.«
«Hör auf, Mignon«, sagte Bernard.»Was du tust, ist unnötig.«
«Ich fürchte, da irrst du dich.«
«Valerie«, flehte Bernard seine Frau an. Der Mann musste gerade mitansehen, wie sein gewohntes Leben in Scherben ging, dachte Lynley.»Ich glaube, es ist alles Nötige gesagt worden. Wenn wir uns vielleicht darauf einigen können …«
«Worauf?«, fauchte Valerie.
«Darauf, ein bisschen Gnade walten zu lassen. Dieser schreckliche Sturz vor all den Jahren. In Launchy Gill. Es geht ihr nicht gut. Sie ist seitdem nicht mehr dieselbe. Du weißt, dass sie nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen.«
«Sie ist genauso gut dazu in der Lage wie ich«, schaltete Manette sich ein.»Wie jeder hier. Ehrlich, Dad, Mum hat recht, Herrgott noch mal. Es wird Zeit, dass wir mit diesem Unsinn aufhören. Das muss die teuerste Schädelfraktur aller Zeiten sein, wenn man bedenkt, wie viel Kapital Mignon daraus geschlagen hat.«
Aber Valerie beobachtete ihren Mann. Lynley sah, dass Fairclough der Schweiß auf die Stirn getreten war. Seine Frau hatte es offenbar ebenfalls bemerkt, denn sie wandte sich an Mignon und sagte leise:»Bringen wir es hinter uns.«
«Dad?«, sagte Mignon.
«Um Himmels willen, gib ihr, was sie will, Valerie.«
«Nein, das werde ich nicht«, entgegnete Valerie.»Auf gar keinen Fall.«
«Dann sollten wir uns jetzt über Bianca unterhalten«, sagte Mignon. Ihr Vater schloss die Augen.
«Wer ist Bianca?«, fragte Manette.
«Unsere kleine Halbschwester«, antwortete Mignon. Sie schaute ihren Vater an.»Willst du uns von ihr erzählen, Dad?«
Lucy Kevernes Anruf versetzte Alatea Fairclough in Alarmstimmung. Sie hatten vereinbart, dass Lucy sie niemals anrufen würde, weder auf dem Handy noch auf dem Festnetz. Alatea hatte ihr zwar die Nummern gegeben, doch sie hatte von Anfang an klargestellt, dass ein Anruf bei ihr der ganzen Sache ein Ende setzen würde, und das wollten sie beide nicht.
Worauf Lucy verständlicherweise gefragt hatte:»Und was soll ich im Notfall tun?«
«Dann müssen Sie eben anrufen. Aber Sie werden verstehen, dass ich dann nicht mit Ihnen sprechen kann.«
«Wir brauchen einen Code für diesen Fall.«
«Für was?«
«Für den Fall, dass Sie in dem Moment, wo ich anrufe, nicht mit mir sprechen können. Falls Ihr Mann in Hörweite ist, können Sie ja schlecht sagen: ›Ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen.‹ Das würde ja erst recht seinen Verdacht erregen, oder?«
«Ja, da haben Sie recht. «Alatea überlegte.»Ich werde sagen: ›Nein, tut mir leid, ich habe nichts bei Ihnen bestellt‹, und dann rufe ich Sie bei der allernächsten Gelegenheit zurück. Aber das kann womöglich bis zum nächsten Tag dauern.«
Darauf hatten sie sich schließlich geeinigt, und bisher hatte Lucy auch keinen Grund gehabt, Alatea anzurufen. Als sie sich jetzt jedoch so kurz nach ihrem Treffen in Lancaster meldete, wusste Altea sofort, dass etwas nicht stimmte.
Wie brenzlig die Situation war, wurde ihr nach wenigen Sekunden klar. Man hatte sie zusammen an der Uni gesehen, berichtete ihr Lucy. Man hatte sie im George Childress Centre gesehen. Wahrscheinlich hatte es nichts zu bedeuten, aber eine Frau war ihnen von der Uni zum Invalidenheim gefolgt und hatte mit Lucy über Leihmutterschaft sprechen wollen. Sie sei auf der Suche nach einer Leihmutter, habe die Frau behauptet. Auch das müsse noch nichts Schlimmes bedeuten. Doch die Tatsache, dass die Frau nicht Alatea, sondern Lucy angesprochen habe …
«Sie meinte, Sie hätten ›diesen Blick‹«, fuhr Lucy fort.»Sie hat gesagt, es ist ein Blick, den sie von sich selbst gut kennt. Deswegen hätte sie sofort gewusst, dass sie nicht Sie, sondern mich auf die Möglichkeit einer Leihmutterschaft ansprechen musste.«
Alatea hatte das Gespräch in der Kaminnische des großen Wohnzimmers angenommen. Es war ein kuscheliges Plätzchen, wo sie die Wahl hatte, von der Eckbank aus in den Garten hinauszuschauen oder auf der anderen Seite des Kamins zu sitzen, wo jemand, der das Zimmer betrat, sie nicht gleich sehen konnte. Sie war allein im Haus und gerade dabei gewesen, in Architekturzeitschriften zu blättern, doch mit den Gedanken war sie ganz woanders gewesen, nämlich bei Lucy. Sie hatte überlegt, wie sie weiter vorgehen sollten. Schon bald, hatte sie sich gesagt, würde Lucy Keverne, eine mittellose Stückeschreiberin aus Lancaster, die in dem Invalidenheim arbeitete, um sich über Wasser zu halten, als eine Art neue Freundin in ihr Leben treten. Von da an würde alles einfacher werden. Es würde nie perfekt werden, aber das spielte keine Rolle. Man musste lernen, mit der Unvollkommenheit zu leben.
Als Lucy die Frau beschrieb, die ihnen gefolgt war, wusste Alatea sofort, wer sie war. Blitzschnell zählte sie zwei und zwei zusammen und kam zu dem Schluss, dass die rothaarige Frau namens Deborah St. James, die angeblich einen Dokumentarfilm drehen wollte, ihr nach Lancaster gefolgt war.
Anfangs hatten Alateas Ängste sich in erster Linie um den Journalisten gedreht. Sie kannte die Source, und sie wusste, dass das Blatt einen unstillbaren Hunger auf Skandale hatte. Der erste Besuch das Mannes in Cumbria hatte sie nervös gemacht, aber als er zum zweiten Mal aufgetaucht war, hatte sie Höllenqualen gelitten. Am meisten fürchtete sie ein Foto in der Zeitung, auf dem sie erkannt würde. Und jetzt war ihr auch noch diese Rothaarige auf den Fersen.
«Was haben Sie ihr gesagt?«, fragte Alatea so ruhig, wie es ihr möglich war.
«Die Wahrheit über das Thema Leihmutterschaft. Aber das meiste wusste sie schon.«
«Was meinen Sie mit Wahrheit?«
«Na ja, die verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, was legal ist und was nicht, und so weiter. Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht, irgendwie konnte ich nachvollziehen, was sie getan hatte. Ich meine, wenn eine Frau verzweifelt ist …«Lucy zögerte.
«Fahren Sie fort«, sagte Alatea.»Wenn eine Frau verzweifelt ist …?«
«Dann schreckt sie vor nichts zurück. Deswegen kam es mir alles in allem gar nicht so abwegig vor, dass eine Frau, die zu einer Beratung ins George Childress Centre gegangen war und uns irgendwo auf dem Korridor zusammen gesehen hatte, womöglich …«
«Womöglich was?«
«… eine Chance gewittert hatte. Letztlich haben wir beide uns ja auch auf diese Weise kennengelernt.«
«Nein. Ich habe mich auf eine Anzeige von Ihnen gemeldet.«
«Richtig. Aber ich spreche von dem Gefühl, das dahintersteckt. Von dieser Verzweiflung. Denn darüber hat sie die ganze Zeit geredet. Dachte ich zumindest.«
«Und dann?«
«Na ja, deswegen rufe ich Sie an. Nach dem Gespräch habe ich sie zur Tür begleitet, und wir haben uns verabschiedet. Sie ging die Straße hinunter, und von einem Fenster im Korridor habe ich dann zufällig gesehen, wie sie plötzlich auf dem Absatz kehrtgemacht hat und wieder zurückgegangen ist. Zuerst dachte ich, sie wollte mich noch etwas fragen, doch sie ist am Invalidenheim vorbeigegangen und in ein Auto gestiegen.«
«Vielleicht hatte sie vergessen, wo sie geparkt hatte«, sagte Alatea, obwohl sie das eigentlich selbst nicht glaubte.
«Das dachte ich auch zuerst. Aber offenbar saß jemand in dem Auto, denn sie ist auf der Beifahrerseite eingestiegen, und jemand hat ihr von innen die Tür aufgehalten. Also bin ich am Fenster stehen geblieben und habe gewartet, bis das Auto vorbeifuhr. Am Steuer saß ein Mann. Und das hat mich misstrauisch gemacht, verstehen Sie? Ich meine, wenn sie mit ihrem Mann hier war, warum haben die beiden dann nicht gemeinsam mit mir gesprochen? Warum hat sie ihn nicht erwähnt? Mir erzählt, dass er draußen im Auto wartet? Doch sie hat ihn mit keinem Wort erwähnt.«