«Wie sah der Mann aus, Lucy?«
«Ich konnte ihn nicht richtig sehen, es ging alles zu schnell. Aber es schien mir das Beste, Sie anzurufen, weil … Na ja, Sie wissen schon. Die ganze Sache ist sowieso schon riskant …«
«Ich kann Ihnen mehr bezahlen.«
«Das ist nicht der Grund, warum ich anrufe, um Gottes willen. Wir haben uns doch längst auf einen Preis geeinigt. Ich versuche nicht, noch mehr Geld aus Ihnen herauszuquetschen. Ich wollte nur, dass Sie wissen …«
«Dann sollten wir die ersten Schritte unternehmen. Und zwar möglichst bald.«
«Na ja, das ist es ja gerade, wissen Sie. Ich würde eher vorschlagen, dass wir noch ein bisschen länger warten. Ich glaube, wir müssen uns vergewissern, dass diese Frau, wer auch immer sie sein mag, uns nicht gefährlich wird. Dann können wir vielleicht in einem Monat …«
«Nein! Wir haben doch alles vorbereitet. Wir können nicht länger warten!«
«Doch, Alatea, ich finde, das sollten wir tun. Ich schlage Folgendes vor: Sobald sich herausstellt, dass es wirklich reiner Zufall war, dass diese Frau uns gesehen und mich angesprochen hat, legen wir los. Ich gehe schließlich ein größeres Risiko ein als Sie.«
Alatea fühlte sich wie benommen, das Atmen fiel ihr schwer.»Sie haben mich in der Hand«, sagte sie.
«Alatea, meine Liebe, es geht nicht um Macht. Es geht um Sicherheit. Um Ihre und meine. Schließlich bewegen wir uns am Rande der Legalität. Und es geht auch noch um eine Reihe anderer Dinge, über die wir aber jetzt nicht sprechen müssen.«
«Was für Dinge?«, wollte Alatea wissen.
«Nichts, nichts. Das war nur so dahingesagt. Hören Sie, ich muss zurück an die Arbeit. Wir sprechen uns in ein paar Tagen wieder. Machen Sie sich keine Sorgen, okay? Ich stehe Ihnen weiterhin zur Verfügung, nur nicht jetzt sofort. Nicht, solange wir nicht mit Sicherheit wissen, dass das Auftauchen dieser Frau nichts zu bedeuten hat.«
«Und wie werden wir das erfahren?«
«Wie gesagt: Ich werde es wissen, wenn sie nicht wieder bei mir auftaucht.«
Lucy Keverne riet ihr noch einmal, sich keine Sorgen zu machen, Ruhe zu bewahren, auf sich aufzupassen. Sie werde sich bei Alatea melden. Alles werde gut werden. Dann legte sie auf.
Alatea blieb in der Nische sitzen und überlegte, welche Möglichkeiten ihr blieben oder ob sie überhaupt noch etwas ändern konnte. Sie hatte von Anfang gespürt, dass die Rothaarige ihr gefährlich werden würde, egal, was Nicholas gesagt hatte. Und jetzt, wo Lucy diese Deborah St. James mit einem Mann zusammen gesehen hatte, wusste sie auch, wie die Gefahr aussah. Manche Menschen hatten nicht das Recht, so zu leben, wie sie es wünschten, und sie, Alatea, hatte das große Pech, einer von diesen Menschen zu sein. Sie war außergewöhnlich schön, doch das bedeutete ihr überhaupt nichts. Im Gegenteil, ihre Schönheit war ihr Untergang gewesen.
Sie hörte, wie irgendwo im Haus eine Tür zugeschlagen wurde. Sie sprang auf und schaute stirnrunzelnd auf ihre Armbanduhr. Nicky war zur Arbeit gefahren. Von dort müsste er eigentlich zu seinem Wehrturmprojekt weitergefahren sein. Aber als er ihren Namen rief und als sie die Panik in seiner Stimme hörte, wusste sie, dass er woanders gewesen war.
Sie eilte ihm entgegen und rief:»Hier, Nicky! Ich bin hier!«
Sie trafen sich in dem langen, eichengetäfelten Flur, wo trübes Dämmerlicht herrschte. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Doch seine Stimme jagte ihr Angst ein.»Ich bin schuld«, sagte er.»Ich habe alles kaputt gemacht, Allie. Und ich weiß nicht, wie ich mit diesem Wissen leben soll.«
Alatea erinnerte sich daran, wie verzweifelt Nicholas am Vortag gewesen war, nachdem er erfahren hatte, dass jemand von Scotland Yard die Umstände von Ian Cresswells Tod untersuchte. Einen schrecklichen Moment lang hielt sie Nicholas’ Worte für ein Geständnis, dass er seinen Vetter ermordet hatte, und ihr wurde ganz schwindlig bei dem Gedanken, was ihnen passieren konnte, wenn das herauskam. Wenn der Schrecken ein Wesen besaß, dann war es in dem düsteren Flur deutlich zu spüren.
Sie sagte:»Nicky, bitte«, und nahm seinen Arm.»Du musst mir genau erzählen, was passiert ist. Dann entscheiden wir gemeinsam, was zu tun ist.«
Unerklärlicherweise füllten sich seine Augen mit Tränen.»Ich glaube, das kann ich nicht«, sagte er.
«Warum nicht? Was ist passiert? Was kann denn so schrecklich sein, dass du es mir nicht sagen kannst?«
Er lehnte sich gegen die Wand. Ohne seinen Arm loszulassen, sagte sie:»Geht es um diese Scotland-Yard-Ermittlung? Hast du mit deinem Vater gesprochen? Glaubt er allen Ernstes …?«
«Das spielt alles keine Rolle«, erwiderte Nicholas.»Wir sind von lauter Lügnern umgeben. Meine Mutter, mein Vater, wahrscheinlich meine Schwestern, dann dieser Journalist von der Source und diese Frau von der Filmgesellschaft. Aber ich habe es nicht gesehen, weil ich an nichts anderes denken konnte als daran, mich zu beweisen. «Das letzte Wort hatte er voller Verachtung ausgesprochen.»Ego, Ego, Ego«, sagte er und schlug sich dabei jedes Mal mit der Faust an die Stirn.»Mich hat die ganze Zeit nichts anderes interessiert, als aller Welt — vor allem meiner Familie — zu beweisen, dass ich nicht mehr der bin, den sie bisher kannten. Keine Drogen mehr, kein Alkohol mehr. Sie sollten es sehen. Deswegen habe ich keine Gelegenheit ausgelassen, mich in ein gutes Licht zu rücken, und einzig und allein deswegen sind wir jetzt in dieser Situation.«
Alatea war vor Schreck fast die Luft weggeblieben, als er Deborah St. James erwähnt hatte.
Mehr und mehr drehte sich alles um diese Frau, die sie in blindem Vertrauen mit ihrer Kamera in ihr Haus gelassen hatten, mit der sie sich unterhalten, deren Fragen sie beantwortet hatten. Von Anfang an hatte Alatea gespürt, dass mit dieser Frau irgendetwas nicht stimmte. Und jetzt war sie sogar in Lancaster gewesen und hatte mit Lucy Keverne gesprochen. So schnell war sie ihr auf die Schliche gekommen. Das hätte Alatea nie für möglich gehalten.»Wie genau sieht denn die Situation aus, in der wir uns befinden, Nicky?«, fragte sie.
Er erklärte es ihr, und sie versuchte, seinen Ausführungen zu folgen. Er sprach von dem Journalisten, der die rothaarige Frau für eine Polizistin von Scotland Yard hielt, er sprach von seinen Eltern und darüber, dass er sich mit ihnen in Gegenwart von Manette und Freddie McGhie über genau das Thema gestritten hatte. Er sprach von seiner Mutter, die ihm eröffnet hatte, dass sie diejenige gewesen war, die sich an Scotland Yard gewandt hatte. Und er erzählte ihr, wie verblüfft sie alle gewesen waren, als er ihnen vorgeworfen hatte, diese Polizistin hätte Alatea völlig aus der Fassung gebracht … Dann verstummte er abrupt.
«Und dann?«, fragte Alatea vorsichtig.»Was haben sie dazu gesagt?«
«Die Frau ist gar nicht von Scotland Yard«, sagte er tonlos.»Ich weiß nicht, wer sie ist. Aber irgendjemand hat sie hergeschickt, um diese Fotos zu machen … Sie hat zwar behauptet, sie bräuchte keine Fotos von dir, dass du gar nicht in dem verdammten Film auftreten solltest, doch irgendjemand muss sie geschickt haben, denn diese Filmgesellschaft, in deren Auftrag sie angeblich hier ist, existiert überhaupt nicht. Verstehst du jetzt, warum ich an allem schuld bin, Allie? Alles ist meine Schuld. Ich fand es schon schlimm genug, dass meine Eltern meinetwegen einen Detective von Scotland Yard hergebeten haben, um die Umstände von Ians Tod noch einmal zu untersuchen. Aber zu erfahren, dass das, was diese Frau hier in diesem Haus getan hat, gar nichts mit Ians Tod zu tun hat, sondern nur passiert ist, weil ich so egoistisch bin … weil irgendein bescheuerter Artikel in irgendeinem Käseblatt jemanden auf uns aufmerksam gemacht hat …«