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Plötzlich wusste sie, worauf er hinauswollte. Wahrscheinlich hatte sie es von Anfang an geahnt.»Montenegro«, flüsterte sie.»Du glaubst, er hat sie geschickt?«

«Wer sonst soll sie geschickt haben, Herrgott noch mal? Das habe ich dir angetan, Allie. Und jetzt sag mir: Wie soll ich damit leben?«

Er schob sich an ihr vorbei und ging ins Wohnzimmer. Dort konnte sie im schwindenden Tageslicht sein Gesicht besser sehen. Er sah entsetzlich aus, und eine Schrecksekunde lang fühlte sie sich für seinen Zustand verantwortlich, obwohl er es gewesen war, der die angebliche Mitarbeiterin einer Filmgesellschaft in ihr Leben gelassen hatte. Aber sie kam nicht dagegen an. Es war die Rolle, die sie in ihrer Beziehung übernommen hatte, genauso wie es seine Rolle war, sie so verzweifelt zu brauchen, dass er nie irgendetwas in Frage gestellt hatte, solange sie ihn ihrer Liebe versichert hatte. Und das war genau das gewesen, was sie gebraucht hatte: ein Zufluchtsort, wo ihr niemand die Art gefährlicher Fragen stellte, die aus einem kurzen Moment des Zweifels erwuchsen.

Draußen wurde es allmählich dunkel. Die Bucht war ein exaktes Spiegelbild des dunkelgrauen, von orangefarbenen Streifen durchzogenen Abendhimmels.

Nicholas ließ sich in einen der Sessel im Erker sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.

«Ich habe dich enttäuscht«, sagte er.»Und ich habe vor mir selbst versagt.«

Alatea hätte ihren Mann am liebsten geschüttelt. Ihm gesagt, dass das nicht der richtige Zeitpunkt war, sich einzureden, er sei die Ursache aller Probleme, die sie hatten. Sie hätte ihn am liebsten angeschrien, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, was für schlimme Dinge ihnen noch bevorstanden. Aber wenn sie das tat, würde er daraus unvermeidlich eine Schlussfolgerung ziehen, die es zu verhindern galt.

Nicholas glaubte, wenn Raul Montenegro wieder in ihr Leben trat, würde alles vorbei sein. Er konnte nicht ahnen, dass Raul Montenegro in Wirklichkeit erst der Anfang war.

BLOOMSBURY — LONDON

Barbara fuhr nach Bloomsbury, um in der Nähe der Uni zu sein, wenn Taymullah Azhar sich bei ihr meldete. Da sie noch mehr Informationen über Raul Montenegro sowie über den Ort Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos brauchte, beschloss sie, in einem Internetcafé zu warten. So würde sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Bevor Nkata die Bibliothek verlassen hatte, hatte er ihr zugeraunt:»Such nach Schlüsselbegriffen und klick dich weiter durch. Dafür muss man nicht studiert haben, man braucht nur ein bisschen Übung. «Mit Schlüsselbegriffen hatte er wahrscheinlich die Namen gemeint, die in den Artikeln auftauchten, dachte sie, und falls sie in der Nähe des British Museum ein Internetcafé fand, würde sie es damit versuchen.

Es war nicht der angenehmste Ort, um Internetrecherchen durchzuführen. Sie hatte sich unterwegs ein Wörterbuch Englisch/Spanisch gekauft, und jetzt saß sie zwischen einem übergewichtigen Asthmatiker in einem Mohairpullover und einer Kaugummiblasen produzierenden Gothic-Tussi mit Nasenring und Augenbrauenpiercings, die dauernd von jemandem auf ihrem Handy angerufen wurde, der offenbar nicht glaubte, dass sie in einem Internetcafé saß, denn sie fauchte immer wieder:»Herrgott noch mal, dann komm her und überzeug dich selbst, Clive … Stell dich nicht so bescheuert an. Ich schreib keine E-Mails an niemand. Wie auch, wenn du mich dauernd anrufst?«

In dieser Atmosphäre versuchte Barbara, sich zu konzentrieren. Und sie versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass die Maus aussah, als sei sie noch nie in ihrem Leben desinfiziert worden. So gut es ging, berührte sie auch die vor Dreck starrende Tastatur beim Tippen nur mit den Fingernägeln, obwohl die dafür eigentlich viel zu kurz waren.

Nachdem sie ein paar unergiebige Spuren verfolgt hatte, fand sie einen Artikel über den Bürgermeister von Santa María und so weiter, der ein Foto enthielt. Es sah aus wie ein Jubiläumsfoto — vielleicht ein Schulabschluss? — , aber auf jeden Fall schien es ein Foto von einer Familienfeier zu sein, denn sie hatten sich alle auf den Stufen eines unidentifizierbaren Gebäudes aufgestellt: der Bürgermeister, seine Frau und ihre fünf gemeinsamen Söhne. Barbara betrachtete das Foto genauer.

Auch ohne eine Übersetzung des Textes war ihr eins sofort klar: Als im Himmel die Schönheit verteilt wurde, hatten die fünf Brüder ganz laut Hier! gerufen. Barbara las ihre Namen: Carlos, Miguel, Ángel, Santiago und Diego. Der Älteste war neunzehn, der Jüngste sieben Jahre alt. Aber dann entdeckte Barbara, dass das Foto bereits vor zwanzig Jahren aufgenommen worden war, was bedeutete, dass mindestens die drei ältesten Söhne mittlerweile verheiratet sein konnten, einer von ihnen vielleicht mit Alatea. Wenn Barbara Nkatas Rat richtig verstanden hatte, bestand der nächste Schritt jetzt darin, die fünf Söhne zu überprüfen. Sie fing mit Carlos an.

Er war leichter zu finden als erwartet, aber er war nicht verheiratet, sondern zu ihrer Überraschung katholischer Priester. Sie fand einen Artikel über seine Priesterweihe, wieder mit einem Foto von der ganzen Familie, die diesmal auf den Stufen einer Kirche posierte. Carlos’ Mutter klammerte sich an seinen Arm und schaute ihn voller Bewunderung an, sein Vater grinste breit, eine Zigarre im Mundwinkel, während die Brüder dreinblickten, als wären sie von all dem Zirkus eher peinlich berührt. Carlos konnte sie also abhaken, dachte Barbara.

Sie nahm sich Miguel vor. Auch diesmal brauchte sie nicht lange. Es ging so leicht, dass Barbara sich fragte, warum sie eigentlich nicht seit Jahren ihre Nachbarn ausspionierte. Sie fand ein Foto von Miguels Verlobung. Seine Zukünftige erinnerte Barbara an einen afghanischen Windhund, viel Haar, schmales Gesicht und eine verdächtig fliehende Stirn, was nicht gerade auf übermäßig viel Grips schließen ließ. Miguel war Zahnarzt, vermutete Barbara. Oder er brauchte einen Zahnarzt — das konnte sie mit Hilfe ihres kleinen Wörterbuchs nicht genau eruieren. Aber es schien auch keine Rolle zu spielen, denn es brachte sie keinen Schritt näher an Informationen über Alatea.

Sie wollte gerade Ángels Namen als Suchbegriff eingeben, als die ersten Takte von Peggy Sue ertönten. Sie klappte ihr Handy auf und sagte:»Havers. «Azhar hatte endlich jemanden aufgetrieben, der ihr die spanischen Texte übersetzen konnte.»Wo sind Sie gerade, Barbara?«, fragte er.

«In einem Internetcafé gleich um die Ecke vom British Museum«, sagte sie.»Ich komme zu Ihnen, das ist einfacher. Gibt’s bei Ihnen eine Cafeteria oder so was?«

Er schwieg einen Moment. Schließlich sagte er, es gebe ein Weinlokal am Torrington Place in der Nähe von Chenies Mews und der Gower Street. Dort könnten sie sich in einer Viertelstunde treffen.

«Alles klar«, sagte sie.»Das finde ich. «Sie druckte die Dokumente, die sie gefunden hatte, schnell aus und ging damit nach vorne, wo der junge Mann an der Kasse ihr einen exorbitanten Preis nannte.»Farbdrucker«, sagte er nur, als Barbara protestierte.

«Farbwucher würd ich eher sagen«, entgegnete Barbara, schob die Ausdrucke in einen großen Briefumschlag und ging in Richtung Torrington Street. In dem Weinlokal, das leicht zu finden war, wartete Azhar am Tresen auf sie. Neben ihm stand eine langbeinige junge Frau in einer Strickjacke aus Kaschmir, deren üppige schwarze Locken ihre Schultern umspielten.

Die junge Frau hieß Engracia, ein Nachname wurde nicht genannt, und sie war eine Studentin aus Barcelona.»Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann«, sagte sie zu Barbara, die vermutete, dass die Studentin in erster Linie Azhar gefällig sein wollte, und das konnte sie ihr nicht verdenken. Die beiden waren ein hübsches Paar. Aber dasselbe galt für Azhar und Angelina Upman. Oder für Azhar und fast jede andere Frau.

«Danke«, sagte Barbara.»In meinem nächsten Leben werde ich Dolmetscherin.«