Etwa dreißig Sekunden lang wirkten sie wie ein Standbild, auch wenn diese dreißig Sekunden viel länger zu dauern schienen. Mignon ließ ihren Blick von einem zum Nächsten wandern, und ihr Gesicht drückte einen Triumph aus, auf den sie offenbar jahrelang gewartet hatte. Manette kam sich vor wie eine Figur in einem Theaterstück. Dieser Moment war der Höhepunkt des Dramas, und jetzt würde wie in jeder griechischen Tragödie die Katharsis folgen.
Valerie war die Erste, die aus ihrer Erstarrung erwachte. Sie stand auf und sagte auf ihre übliche kultivierte Art:»Wenn ihr mich bitte entschuldigen wollt. «Dann verließ sie den Raum.
Mignon konnte sich nicht mehr halten vor Lachen.»Willst du denn nicht mehr wissen, Mum?«, rief sie.»Du kannst doch jetzt nicht gehen. Willst du nicht auch noch den Rest hören?«
Nach kurzem Zögern drehte Valerie sich um und schaute Mignon an.»Du wärst ein gutes Argument für den Brauch, Säuglingen direkt nach der Geburt den Hals umzudrehen«, sagte sie und ging.
Lynley folgte ihr. Plötzlich zeigte sich alles in einem ganz neuen Licht, dachte Manette, und wahrscheinlich würde der Inspector alles, was er bisher über Ians Tod herausgefunden hatte, noch einmal überdenken müssen. Sie selbst jedenfalls tat genau das, denn wenn Ian von dem Kind ihres Vaters gewusst hatte … wenn er ihren Vater mit diesem Wissen erpresst hatte … wenn ihr Vater vor der Wahl gestanden hatte, die Wahrheit ans Licht kommen zu lassen oder weiterhin mit einer Lüge zu leben … Manette konnte sich gut vorstellen, dass das Leben ihres Vetters unter diesen Umständen in Gefahr gewesen war, und das würde der Inspector bestimmt genauso sehen.
Sie wollte nicht glauben, was Mignon über dieses Kind gesagt hatte, aber das Gesicht ihres Vaters zeigte ihr, dass es die Wahrheit war. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, und auch nicht, wie lange sie brauchen würde, um das alles zu verdauen. Aber sie sah genau, was Mignon von der Sache hielt: Für sie war es ein Grund mehr, ihren Vater für alles verantwortlich zu machen, was ihr im Leben fehlte.
«Ach du je, Dad«, sagte Mignon grinsend.»Aber wenigstens gehen wir beide gemeinsam unter, nicht wahr? Das ist dir doch bestimmt ein Trost. Dem Untergang geweiht zu sein und zugleich zu sehen, dass dein Lieblingskind — das bin ich doch, oder? — mit dir untergeht. Wie König Lear und Cordelia. Die Frage ist nur: Wer spielt den Narren?«
Bernards Miene war wie versteinert.»Ich fürchte, du irrst dich, Mignon«, sagte er.»Auch wenn du mit der List einer Schlange an das viele Geld gekommen bist.«
Mignon ließ sich überhaupt nicht beirren.»Glaubst du im Ernst, die Vergebung in einer Ehe geht so weit?«
«Ich glaube, du weißt weder etwas über die Ehe noch über Vergebung.«
Manette schaute Freddie an. Er beobachtete sie mit dunklen Augen. Sie wusste, dass er um sie besorgt war, dass er sich fragte, wie sie damit zurechtkam, Zeugin der Zerstörung ihrer Familie zu werden. Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie damit zurechtkommen würde, aber sie wusste zugleich, dass sie das nicht allein durchstehen wollte.
Mignon sagte zu ihrem Vater:»Hast du wirklich geglaubt, du könntest Bianca ewig geheim halten? Gott, was musst du für ein Ego besitzen. Und sag mal, Dad, was hast du eigentlich gedacht, wie die arme kleine Bianca damit fertigwird, wenn sie eines Tages von der anderen Familie ihres Vaters erfährt? Von seiner richtigen Familie. Aber so weit hast du wohl nicht in die Zukunft geblickt. Solange Vivienne sich an deine Regeln gehalten hat, hast du wahrscheinlich an nichts anderes gedacht als daran, wie gut sie es dir im Bett besorgt und wie oft du sie sehen kannst.«
«Vivienne«, erwiderte Bernard,»kehrt nach Neuseeland zurück. Und damit ist dieses Gespräch beendet.«
«Ich bestimme, wann dieses Gespräch beendet ist«, sagte Mignon.»Nicht du. Deine Vivienne ist jünger als wir. Sie ist sogar jünger als Nick.«
Bernard ging zur Haustür und musste dazu an Mignon vorbei. Sie versuchte, ihn am Arm zu packen, aber er riss sich los. Manette rechnete schon damit, dass ihre Schwester das ausnutzen würde, um sich vom Sofa fallen zu lassen und sich mal wieder zum Opfer väterlicher Gewalttätigkeit zu stilisieren, doch Mignon sagte lediglich:»Ich werde mit Mum reden. Ich werde ihr alles erzählen. Seit wann du es schon mit Vivienne treibst … Seit zehn Jahren, Dad? Oder noch länger? Wie alt war sie, als es angefangen hat? Vierundzwanzig, nicht wahr? Oder noch jünger? Und wie es dazu kam, dass Bianca geboren wurde. Sie wollte ein Kind, nicht wahr? Und du wolltest es auch, stimmt’s, Dad? Denn als Vivienne schwanger wurde, war Nick immer noch auf seinem Drogentrip, und du hast immer noch gehofft, dass irgendjemand dir irgendwann einen Sohn schenkt, nicht wahr? Und was glaubst du, wie Mum sich freuen wird, wenn sie das alles erfährt!«
Bernard sagte:»Richte möglichst viel Schaden an, Mignon. Es ist ja das Einzige, was du kannst.«
«Ich hasse dich«, sagte sie.
«Wie immer«, erwiderte er.
«Hast du mich gehört? Ich hasse dich!«
«Für meine Sünden«, sagte Bernard,»ich weiß. Und vielleicht habe ich das sogar verdient. Und jetzt verlasse mein Haus.«
Alle zuckten zusammen, und Manette dachte schon, ihre Schwester würde sich weigern. Mignon starrte ihren Vater an, als wartete sie auf etwas, von dem Manette wusste, dass es nicht passieren würde. Schließlich schob sie ihren Rollator zur Seite. Dann stand sie auf und schlenderte lächelnd aus dem Leben ihres Vaters hinaus.
Nachdem die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, nahm Bernard ein linnenes Taschentuch aus seiner Tasche. Zuerst putzte er damit sein Brille, dann wischte er sich damit das Gesicht ab. Manette sah, dass seine Hände zitterten. Für ihn stand plötzlich alles auf dem Spiel, unter anderem seine vierzigjährige Ehe.
Schließlich schaute er zuerst Manette, dann Freddie, dann wieder Manette an.»Es tut mir leid, meine Liebe. Es gibt so vieles …«
«Ich glaube, das spielt alles keine Rolle mehr. «Wie seltsam, dachte Manette. Ihr Leben lang hatte sie auf diesen Augenblick gewartet: sich einmal ihrem Vater gegenüber in einer überlegenen Position wiederzufinden. Aber auf einmal wusste sie gar nicht, warum ihr das alles so wichtig gewesen war. Sie wusste nur, dass sie nicht das empfand, was sie erwartet hatte, als ihr die Anerkennung ihres Vaters endlich zuteilwurde.
Bernard nickte.»Freddie …«
«Wenn ich gewusst hätte, was hier passieren würde«, sagte Freddie,»hätte ich wahrscheinlich versucht, es zu verhindern. Oder vielleicht auch nicht, was weiß ich? Ich bin mir gar nicht so sicher.«
«Du bist ein anständiger, ehrlicher Mann, Freddie. Bleib so. «Bernard entschuldigte sich. Manette und Freddie hörten, wie er mit schweren Schritten die Treppe hochstieg. Dann wurde irgendwo über ihnen leise eine Tür geschlossen.
«Am besten, wir gehen jetzt«, sagte Freddie.»Das heißt, wenn du dazu in der Lage bist.«
Er ging zu ihr, und sie ließ es geschehen, dass er ihr auf die Beine half, nicht, weil sie nicht allein aufstehen konnte, sondern weil es ihr guttat, seine starken Arme zu spüren.
Erst als sie im Auto saßen und auf das Tor zufuhren, kamen ihr die Tränen. Sie versuchte, lautlos zu weinen, doch Freddie bemerkte es sofort. Er hielt an und nahm sie in die Arme.
«Das ist ziemlich heftig. Seine Eltern so zu erleben. Zu wissen, dass einer den anderen kaputt gemacht hat«, sagte er.»Ich schätze, deine Mutter hat immer gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte, aber vielleicht war es leichter für sie, es einfach zu ignorieren.«
Das Gesicht an seiner Schulter vergraben, schüttelte sie den Kopf.
«Was ist?«, sagte er.»Okay, deine Schwester ist komplett verrückt, aber das ist doch nichts Neues, oder? Allerdings frage ich mich manchmal, wie es möglich ist, dass du so … na ja, so normal bist, Manette. Das ist fast ein Wunder, wenn man sich’s recht überlegt.«