Als Tim Mrs. J. Bobak Gracies Puppe gezeigt hatte, hatte die nur den Kopf geschüttelt. Da sei nichts zu machen, sagte sie, selbst wenn sie auf die Reparatur von Spielzeug spezialisiert wären, was nicht der Fall war. Er solle lieber ein bisschen sparen und seiner Schwester eine neue Puppe kaufen. Ganz in der Nähe gebe es ein Spielzeuggeschäft, das …
Es müsse diese Puppe sein, hatte er J. Bobak erklärt. Er wusste, dass es unhöflich war, jemanden zu unterbrechen, und er entschuldigte sich bei der Frau. Die Puppe, erklärte er ihr, habe sein Vater seiner kleinen Schwester geschenkt, und sein Vater sei jetzt tot. Das erregte J. Bobaks Mitleid. Sie legte die Einzelteile der Puppe auf dem Tresen nebeneinander, schürzte die pinkfarbenen Lippen und betrachtete Bella nachdenklich. Dann war ihr Sohn dazugekommen.»Hallo«, sagte er zu Tim.»Ich geh nicht mehr zur Schule, aber du müsstest doch eigentlich in der Schule sein, oder? Hast wohl geschwänzt, was?«Seine Mutter sagte:»Kümmer dich um deine Angelegenheiten, Trev, mein Schatz«, und klopfte ihm auf die Schulter. Daraufhin war er zu seinem Radio zurückgeschlurft.
«Bist du dir ganz sicher, dass du keine neue Puppe kaufen willst?«, fragte sie Tim.
Vollkommen, erwiderte Tim. Ob sie Bella reparieren könne? Es gebe in der Stadt keinen Puppendoktor. Er habe überall gesucht.
Schließlich versprach sie ihm, die Puppe so gut wie möglich zusammenzuflicken. Er sagte, er werde ihr die Adresse aufschreiben, an die sie sie schicken solle, wenn sie fertig war, dann nahm er eine Handvoll zerknitterte Geldscheine aus der Tasche, die er mit der Zeit aus der Handtasche seiner Mutter, der Brieftasche seines Vaters und einem Marmeladenglas in der Küche geklaut hatte, in dem Kaveh immer etwas Bargeld aufbewahrte für den Fall, dass ihm das Geld ausging und er keine Zeit hatte, auf dem Heimweg von der Arbeit am Geldautomaten anzuhalten.
«Was?«, fragte J. Bobak.»Du willst sie nicht selbst abholen kommen?«
Nein, antwortete Tim, bis dahin werde er nicht mehr in Cumbria sein. Er sagte, sie solle sich so viel von dem Geld nehmen, wie sie wolle, den Rest könne sie mit der Puppe zusammen an seine Schwester schicken. Dann schrieb er ihr Gracies Namen und Adresse auf: Bryan Beck Farm, Bryanbarrow bei Crosthwaite. Womöglich wohnte Gracie bis dahin längst wieder bei ihrer Mutter, dachte er, aber Kaveh würde ihr die Puppe bestimmt zukommen lassen. Das würde er tun, egal, was für ein verlogenes Leben er mit seiner Frau und seinen Eltern führte. Und Gracie würde sich freuen, Bella wiederzuhaben. Vielleicht würde sie Tim sogar verzeihen, dass er Bella kaputt gemacht hatte.
Nachdem das also erledigt war, hatte er sich von seinem restlichen Geld eine Tüte Marshmallows, einen Kitkatriegel, einen Apfel und eine Portion Nachos mit Salsa und Bohnen gekauft, sich zwischen einem verdreckten weißen Ford Transit und einer mit Styroporresten überquellenden Mülltonne versteckt und alles aufgegessen. Dann war er zu dem Geschäftszentrum gegangen und hatte dort gewartet.
Als ein Laden nach dem anderen zumachte und der Parkplatz sich zu leeren begann, duckte er sich hinter eine Mülltonne, von wo aus er den Fotoladen im Auge behalten konnte. Kurz vor Ladenschluss lief er hinüber und betrat den Laden.
Toy4You hielt gerade die Schublade mit dem Geld in den Händen, die er aus der Kasse genommen hatte, so dass er sein Namensschild nicht entfernen konnte. Tim gelang es, einen Teil davon zu lesen, ehe der Mann sich abwandte: William Con … Der Mann verschwand im Hinterzimmer und kam gleich darauf ohne Geldschublade und ohne Namensschild wieder heraus. Und er war alles andere als gutgelaunt.
«Ich hab dir gesagt, ich würde dir eine SMS schicken«, sagte er.»Was hast du hier zu suchen?«
«Es passiert heute Nacht«, antwortete Tim.
«Hör mir gut zu: Ich spiele keine Machtspielchen mit einem Vierzehnjährigen. Ich hab gesagt, ich gebe dir Bescheid, sobald ich alles vorbereitet habe.«
«Dann kümmer dich jetzt darum. Du hast gesagt, diesmal nicht allein, und das heißt, dass du jemanden kennst. Hol ihn her. Wir machen es hier. «Tim schob sich an dem Mann vorbei. Er sah, wie dessen Gesicht sich verdüsterte. Es war Tim egal, ob es so weit kam, dass Toy4You ihn schlug. Schläge konnte er wegstecken. So oder so würde von jetzt an alles seinen Lauf nehmen.
Er war schon oft im Hinterzimmer des Ladens gewesen, also konnte ihn hier nichts überraschen. Es war ein kleiner Raum, der in zwei Bereiche aufgeteilt war. Im vorderen Bereich standen ein Drucker und alles, was man zur Bearbeitung von Fotos brauchte. Der hintere Bereich diente als Fotostudio, wo man sich vor unterschiedlichen Hintergrundbildern fotografieren lassen konnte.
Diesmal war das Studio eingerichtet wie ein Salon aus dem vorigen Jahrhundert, in dem die Leute früher steif für Fotos posiert hatten, entweder stehend oder sitzend. Es gab eine Chaiselongue, zwei Säulen, auf denen jeweils ein Topf mit einem künstlichen Farn stand, mehrere Sessel, schwere Samtvorhänge, die von dicken Seilen mit Troddeln zurückgehalten wurden, und eine Kulisse, die die Szenerie so wirken ließ, als hätte jemand oben auf einer Klippe, vor einem tiefblauen Himmel voller weißer Kumuluswolken, Möbel arrangiert.
Tim hatte inzwischen kapiert, dass diese Kulisse etwas mit Kontrast zu tun hatte. Und Kontrast, das hatte er auch gelernt, bestand darin, dass zwei Dinge in einer Art Widerspruch zueinander standen. Als Toy4You ihm das bei seinem ersten Besuch erklärt hatte, musste er sofort an den Kontrast zwischen dem denken, was er einmal für sein Leben gehalten hatte — eine Mutter, ein Vater, eine Schwester, ein Haus in Grange-over-Sands —, und das, was aus seinem Leben geworden war, nämlich nichts. Als er jetzt hier stand, dachte er an den Kontrast zwischen dem Leben, das Kaveh Mehran mit seinem Vater geführt hatte, und dem scheinheiligen Leben, das Kaveh in Zukunft führen würde. Dann riss er sich von dem Gedanken los und konzentrierte sich stattdessen auf den wirklichen Kontrast, der vor ihm lag, zwischen dieser unschuldigen Kulisse und dem Inhalt der Fotos, die hier entstehen würden.
Toy4You hatte ihm das alles erklärt, als er zum ersten Mal für ihn posiert hatte. Manche Menschen, hatte er gesagt, fänden Gefallen daran, sich Fotos von nackten Jungs anzusehen. Fotos, auf denen diese Jungen auf ganz bestimmte Weise posierten. Vor allem würden diese Leute sich für ganz bestimmte Körperteile interessieren. Manchmal reiche die bloße Andeutung eines Körperteils aus, aber manchmal müsse er direkt zu sehen sein. Manche Kunden legten Wert darauf, auch das Gesicht des Jungen zu sehen, andere nicht. Ein Schmollmund komme immer gut. Ebenso ein Blick, der sagte: Du kannst mich haben, wie Toy4You sich ausdrückte. Noch besser sei es, wenn er sich einen hochholte für die Kamera. Manche Leute seien bereit, eine Menge Geld für diese Art Fotos zu bezahlen.
Tim hatte sich darauf eingelassen. Schließlich hatte er etwas von Toy4You gewollt und nicht umgekehrt. Es ging ihm nicht um Geld. Er wollte etwas anderes, und das hatte Toy4You ihm immer noch nicht gegeben. Das würde sich jetzt ändern.
Toy4You war ihm ins Hinterzimmer gefolgt.»Du musst verschwinden«, sagte er zu Tim.
«Ruf deinen Freund an und sag ihm, ich warte hier auf ihn. Sag ihm, er soll herkommen. Wir machen die Fotos jetzt gleich.«
«Das wird er nicht tun. Er lässt sich von keinem Vierzehnjährigen herumkommandieren. Er sagt uns, wenn es so weit ist, und nicht umgekehrt. Wieso kapierst du das nicht?«
«Ich hab keine Zeit! Wir machen es jetzt! Ich kann nicht länger warten. Wenn du willst, dass ich’s mit einem Typen mache, dann solltest du die Gelegenheit nutzen, denn es wird keine andere geben.«
«So, so«, sagte Toy4You.»Jetzt sieh zu, dass du wegkommst.«
«Ach? Glaubst du etwa, du findest einen anderen Idioten, der das macht?«
«Es gibt immer Jungs, die Geld brauchen.«