Barbara knöpfte sich Santiago vor. Sie fand einen Artikel über die Erstkommunion des Jungen. Zumindest vermutete sie, dass es sich um die Erstkommunion handelte, denn auf dem Foto, das den Artikel begleitete, stand er aufgereiht unter lauter kleinen Jungs in schwarzen Anzügen und kleinen Mädchen in Brautkleidern, und entweder hatte die Mun-Sekte beschlossen, ihre Mitglieder bereits im Kindesalter zu verheiraten, oder diese Kinder waren als Katholiken in Argentinien gerade zu würdigen Empfängern des heiligen Sakraments aufgestiegen. Da sie es jedoch ziemlich merkwürdig fand, dass über eine Erstkommunion so ausführlich berichtet wurde, versuchte Barbara mit Hilfe ihres Wörterbuchs, ein bisschen mehr zu verstehen. Was ihr schließlich gelang: Die Kirche war abgebrannt, und man hatte die Erstkommunionsfeier im Stadtpark abhalten müssen. Es konnte aber auch sein, dass die Kirche von einer Flut oder einem Erdbeben zerstört oder Termiten zum Opfer gefallen war, so genau konnte Barbara das bei ihren mangelnden Spanischkenntnissen nicht eruieren, und sie fluchte vor sich hin über die Mühe, die es sie kostete, sich Wort für Wort durch all diese Texte zu arbeiten.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie das Foto von den Kommunionkindern und sah sich die Mädchen an. Dann nahm sie das Foto von Alatea, das sie im Internet gefunden hatte, und verglich es mit jedem Gesicht auf dem Gruppenbild. Die Namen der Kinder waren angegeben, und es waren nur fünfzehn, und natürlich hätte sie jeden einzelnen Namen googeln können, doch das hätte Stunden gedauert, und so viel Zeit hatte sie nicht. Wenn Superintendent Ardery zurückkam und Barbara nicht gemeinsam mit dem CPS-Mitarbeiter über den Zeugenaussagen sitzen sah, dann gute Nacht.
Sie überlegte, ob sie die wahrscheinlichste Kandidatin unter den Kommunionkindern aussuchen und dann das Age-Progression-Verfahren anwenden sollte. Aber dazu reichte weder ihre Zeit noch ihre Befugnis. Also recherchierte sie weiter über Santiago, denn wenn sich herausstellte, dass da nichts mehr zu holen war, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als sich Diego vorzunehmen.
Sie fand ein Foto von dem jugendlichen Santiago in der Rolle des Othello ohne die übliche schwarze Schminke in dem gleichnamigen Shakespeare-Stück. Und noch ein letztes Foto von ihm als Schüler zusammen mit seiner Fußballmannschaft und einem riesigen Pokal. Und damit verlor sich seine Spur ebenso wie die von Ángel. Es war, als verlören die Medien vollkommen das Interesse an den jungen Männern, wenn sie nicht bis Anfang zwanzig irgendeinen vorzeigbaren Erfolg aufweisen konnten — wie in diesem Fall der Priesterseminarist und der angehende Zahnarzt. Oder sie waren für ihren Vater politisch nicht mehr nützlich. Denn der Vater war schließlich Politiker mit dem typischen Gehabe eines Politikers, der seine perfekte Familie im Wahljahr der Öffentlichkeit präsentierte.
Barbara dachte über das Thema nach: Familie, Politik, Wählergunst. Sie dachte an Ángel. Sie dachte an Santiago. Sie betrachtete noch einmal alle Fotos, die sie gefunden hatte, bis hin zu dem Foto von den Kommunionkindern im Stadtpark. Dann nahm sie noch einmal das Foto von Alatea Fairclough in die Hand.
«Was ist passiert?«, flüsterte sie.»Erzähl mir deine Geheimnisse, Kleine.«
Aber nichts geschah. Sie erhielt keine Antwort.
Fluchend griff sie nach der Maus, um den Computer auszuschalten. Mit Diego, dem jüngsten Bruder, würde sie sich später befassen. Sie warf einen letzten Blick auf das Foto mit der Fußballmannschaft und auf das von Othello. Dann betrachtete sie noch einmal das Foto von Alatea Fairclough. Dann das von Alatea an Montenegros Arm. Dann noch einmal das von den Kommunionkindern. Dann ging sie die Fotos von Alatea als Dessous-Model durch. Sie ging immer weiter zurück, Jahr um Jahr, und schließlich begriff sie.
Den Blick auf den Bildschirm geheftet, nahm sie ihr Handy und rief Lynley an.
«Kann man sie zwingen?«, wollte Manette von Freddie wissen, der den Wagen mit hohem Tempo durch das Lyth Valley lenkte. Sie hatten gerade die Kurve ins südwestliche Ende des Tals genommen, wo sich hinter den staubigen Begrenzungsmauern auf beiden Seiten der Straße grüne Wiesen erstreckten. Die Gipfel der Berge am Horizont waren von Wolken umhüllt. Dort oben war es neblig. Bald würde der Nebel ins Tal sinken und im Lauf des Tages immer dichter werden.
Manette hatte die ganze Zeit über ihr Gespräch mit Niamh nachgedacht. Wie war es möglich, fragte sie sich, dass sie diese Frau seit Jahren kannte, ohne sie wirklich zu kennen?
Freddie schien dagegen mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen zu sein, denn er schaute sie kurz an und fragte:»Wen? Wozu?«
«Niamh, Freddie. Kann man sie zwingen, die Kinder zurückzunehmen?«
Freddie machte ein skeptisches Gesicht.»Mit Familienrecht kenne ich mich nicht aus. Aber ganz davon abgesehen — was wäre das denn für eine Lösung? Ein Gericht einzuschalten?«
«Ach Gott, ich weiß es auch nicht. Wir sollten uns zumindest überlegen, welche Möglichkeiten bestehen. Denn die Vorstellung, dass sie Tim und Gracie einfach ihrem Schicksal überlassen könnte … vor allem die kleine Gracie … Meine Güte, Freddie, will sie die Kinder etwa in ein Heim stecken? Kann sie das überhaupt? Ich meine, könnte sie jemand zwingen …?«
«Anwälte, Richter, Sozialarbeiter …«, sagte Freddie.»Was glaubst du, welchen Eindruck das auf die Kinder machen würde? Tim ist doch so schon völlig verstört, so sehr, dass man ihn auf die Margaret Fox School geschickt hat. Ich fürchte, wenn er erleben müsste, dass ein Gericht seine Mutter zwingt, ihn wieder zu sich zu nehmen, würde er endgültig durchdrehen.«
«Und meine Eltern? Vielleicht könnten die die Kinder aufnehmen?«, sagte Manette.»Sie lassen doch gerade erst diesen riesigen Fantasiegarten anlegen. Meine Eltern würden das bestimmt machen. Die haben genug Platz, und den Kindern würde es dort gefallen, mit dem See in der Nähe und dem riesigen Spielplatz.«
Freddie ging vom Gas. Vor ihnen wurde eine Schafherde auf eine andere Weide getrieben, und zwar so, wie man es in Cumbria oft erlebte: Sie trotteten gemächlich mitten auf der Straße, ein Collie sorgte dafür, dass sie zusammenblieben, und der Schäfer schlenderte hinterher.
«Meinst du nicht, dass Tim aus dem Alter raus ist, auf Spielplätzen herumzutollen? Und jetzt, wo diese Geschichte mit Vivienne Tully ans Licht gekommen ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass Ireleth Hall der ideale Ort für die beiden ist …«
«Da hast du natürlich recht. «Manette seufzte. Sie musste an das denken, was sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden über ihre Eltern erfahren hatte, vor allem über ihren Vater. Schließlich fragte sie:»Was glaubst du, was sie tun wird?«
«Deine Mutter?«Freddie schüttelte den Kopf.»Keine Ahnung.«
«Ich habe nie verstanden, was sie zu Dad hingezogen hat«, sagte Manette.»Und was Vivienne an ihm gefunden hat, ist mir völlig rätselhaft, glaub mir. Beziehungsweise, was sie an ihm findet, denn anscheinend haben die beiden ja schon seit Jahren ein Verhältnis. Was in aller Welt findet sie an meinem Vater attraktiv? Das Geld kann es nicht sein, denn das gehört meiner Mutter. Wenn es zu einer Scheidung käme, würde er zwar nicht in die Röhre kucken, aber er würde auch nicht gerade in Geld schwimmen. Natürlich hat er immer über Geld verfügt, und vielleicht weiß Vivienne ja gar nicht, dass es eigentlich meiner Mutter …«
«Wahrscheinlich hat sie gar nicht an Geld gedacht, als sie sich auf deinen Vater eingelassen hat«, fiel Freddie ihr ins Wort.»Er wird sie mit seinem selbstsicheren Auftreten beeindruckt haben. Das gefällt Frauen bei Männern, und dein Vater hat immer vor Selbstbewusstsein gestrotzt. Ich nehme an, dass sich auch deine Mutter deswegen zu ihm hingezogen gefühlt hat.«
Manette schaute ihn an. Er beobachtete immer noch die Schafe vor ihnen auf der Straße, aber seine Ohren verrieten ihn. Sie sagte:»Und?«
«Und was?«
«Das mit dem selbstsicheren Auftreten.«