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Während Freddie sich Tims E-Mails vornahm, ging Manette die anderen Sachen durch, die auf dem Schreibtisch lagen. Schulbücher, ein iPod samt Docking Station und Lautsprechern, ein Notizheft gefüllt mit verstörenden Bleistiftzeichnungen von grotesken Außerirdischen, die dabei waren, Körperteile von Menschen zu verspeisen, ein Buch über das Beobachten von Vögeln — wie er wohl dazu kam, fragte sie sich —, ein Taschenmesser mit Resten von getrocknetem Blut an der größten Klinge und eine Landkarte, die Tim sich anscheinend aus dem Internet ausgedruckt hatte. Sie nahm die Karte in die Hand.»Freddie«, sagte sie,»könnte das vielleicht …«

Vor dem Haus wurden Autotüren zugeschlagen. Manette beugte sich über den Tisch, um aus dem Fenster zu sehen. Vielleicht war Kaveh ja nach Hause gekommen, vielleicht hatte er Tim gefunden und mitgebracht, was bedeutete, dass Freddie ganz schnell den Laptop würde ausschalten müssen. Aber neben dem Auto stand ein älteres, dunkelhäutiges Paar, vielleicht Iraner, wie Kaveh, und ein junges, schwarzhaariges Mädchen, das sich eine langfingrige Hand vor den Mund hielt und mit großen Augen an dem Herrenhaus hochschaute. Sie sah das ältere Paar fragend an. Dann nahm die Frau sie am Ellbogen, und zusammen gingen sie auf die Haustür zu.

Die Leute mussten irgendwie zu Kaveh gehören, dachte Manette. Hier oben in Cumbria lebten kaum Ausländer, erst recht nicht auf dem Land. Vielleicht waren sie überraschend zu Besuch gekommen. Oder vielleicht hatten sie auf einer längeren Fahrt einen Abstecher hierhergemacht. Aber darüber brauchte sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen, denn es würde sowieso niemand auf ihr Klopfen hin öffnen, und dann konnten sie und Freddie sich wieder um das kümmern, weswegen sie hergekommen waren.

Aber es kam ganz anders. Offenbar hatten die Leute einen Hausschlüssel.»Was zum Teufel …?«, entfuhr es Manette.»Freddie, da ist jemand gekommen. Ein älteres Paar und ein junges Mädchen. Ich glaub, die gehören irgendwie zu Kaveh. Soll ich …?«

«Verdammt«, murmelte Freddie.»Ich bin hier gerade auf etwas gestoßen. Kannst du … Ich weiß nicht … Kannst du dich um die Leute kümmern?«

Manette verließ das Zimmer und schloss die Tür. Dann ging sie geräuschvoll die Treppe hinunter.»Hallo?«, rief sie.»Kann ich Ihnen helfen?«Sie fing die Leute im Flur zwischen Kaminzimmer und Küche ab.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu bluffen, dachte Manette. Sie lächelte, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sie sich in diesem Haus aufhielt.»Ich bin Manette McGhie«, stellte sie sich vor.»Ich bin Ians Kusine. Sie sind sicher Freunde von Kaveh? Er ist gerade nicht hier.«

Sie waren keine Freunde von Kaveh, sondern dessen Eltern, die aus Manchester hergekommen waren. Sie hatten Kavehs Verlobte mitgebracht, die gerade aus Teheran eingetroffen war, damit sie sich ansehen konnte, wo sie nach der Hochzeit in wenigen Wochen einziehen würde. Sie und Kaveh kannten sich noch nicht. Eigentlich sei es nicht üblich, die Braut dem Bräutigam vor der Hochzeit vorzustellen, aber Kaveh habe darauf bestanden, deshalb seien sie jetzt hier. Eine kleine Überraschung vor der Hochzeit.

Das junge Mädchen hieß Iman, und sie hielt demütig den Blick gesenkt, während die Erwachsenen sich unterhielten, so dass ihr dichtes, schwarzes Haar nach vorne fiel und ihr Gesicht verbarg. Aber Manette hatte trotzdem gesehen, dass sie ausnehmend hübsch war.

«Kavehs Verlobte?«, fragte Manette entgeistert. Das erklärte zumindest den tadellosen Zustand des Hauses. Doch abgesehen davon war das junge Mädchen hier in einen furchtbaren Schlamassel geraten.»Ich wusste gar nicht, dass Kaveh verlobt ist. Ian hat nie etwas davon erwähnt.«

Der Ärger ging schon los.

«Wer ist Ian?«, fragte Kavehs Vater.

AUF DEM WEG NACH LONDON

Als Lynleys Handy klingelte, befand er sich mehr als hundert Kilometer von Milnthorpe entfernt, kurz vor der Abfahrt zur M56, und er war ziemlich geladen. Deborah St. James hatte ihn zum Narren gehalten, und das gefiel ihm absolut nicht. Er war wie verabredet um halb elf zum Crow & Eagle gefahren, in der Annahme, dass sie mit gepackten Koffern auf ihn wartete. Da ihr Mietwagen auf dem Parkplatz stand, hatte er sich zunächst nichts dabei gedacht, als er sie nicht in der Eingangshalle antraf.

«Würden Sie Mrs. St. James bitte Bescheid geben«, hatte er die junge Frau in der frischgestärkten weißen Bluse und dem schwarzen Wollrock gebeten, die an der Rezeption saß.

«Selbstverständlich, Sir. Wen darf ich anmelden?«

Als er geantwortet hatte» Tommy«, hatte sich ihr Gesichtsausdruck kaum merklich verändert. Womöglich, dachte Lynley, wurde das Crow & Eagle ja von den Angehörigen des Landadels als Stundenhotel genutzt. Hastig fügte er hinzu:»Sie hat mich gebeten, sie mit nach London zu nehmen. «Kaum hatte er das ausgesprochen, ärgerte er sich über sich selbst. Entnervt trat er an den Ständer mit Broschüren über die touristischen Ausflugsmöglichkeiten in Cumbria und tat so, als würde er sie studieren.

Nach einer Weile räusperte sich die junge Frau an der Rezeption und sagte:»Es meldet sich niemand, Sir. Vielleicht sitzt sie ja noch im Speiseraum.«

Aber dort war sie nicht. Und auch nicht in der Bar. Irgendwo in der Nähe musste sie jedoch sein, schließlich stand ihr Mietwagen auf dem Hotelparkplatz. Lynley setzte sich an einen Tisch im Speisesaal und wartete. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Bank, im Ort gab es einen Marktplatz, eine alte Kirche mit einem hübschen Friedhof … Vielleicht hatte sie noch einen kleinen Spaziergang gemacht vor der langen Fahrt.

Erst nachdem er eine Weile gewartet hatte, fiel ihm auf, dass Deborah offenbar noch gar nicht aus dem Hotel ausgecheckt hatte, denn sonst hätte die Frau an der Rezeption nicht in ihrem Zimmer angerufen. Ihn packte die Wut.

Er rief sie auf dem Handy an. Natürlich bekam er nur ihre Mailbox.»Dir ist bestimmt klar, dass ich einigermaßen sauer bin. Wir hatten eine Verabredung. Wo zum Teufel steckst du?«Mehr sagte er nicht. Er kannte Deborah. Wenn sie sich einmal in etwas verrannt hatte, dann hatte es keinen Zweck, sie eines Besseren belehren zu wollen.

Als kurz vor der Abfahrt auf die M56 sein Handy klingelte, dachte er zuerst, es sei Deborah, die anrief, um sich bei ihm zu entschuldigen. Ohne auf das Display zu sehen, nahm er das Gespräch entgegen und bellte:»Ja?«

«Äh, ja«, sagte Sergeant Havers.»Ihnen auch einen schönen guten Tag. Schlecht geschlafen?«

«Sorry«, sagte er.»Ich bin auf der Autobahn.«

«Unterwegs nach …?«

«Nach Hause, wohin sonst?«

«Keine gute Idee, Sir.«

«Wieso? Was ist los?«

«Rufen Sie mich an, sobald Sie auf einen Rastplatz gefahren sind. Ich möchte nicht, dass Sie Ihren teuren Schlitten zu Schrott fahren. Den Bentley hab ich ja schon auf dem Gewissen.«

Eine Viertelstunde später hielt Lynley vor einer schmuddeligen Raststätte. Er holte sich einen Kaffee, setzte sich damit an einen Tisch und rief Barbara an.

«Ich hoffe, Sie sitzen gut«, sagte sie, als sie das Gespräch entgegennahm.

«Ich saß auch schon gut, als Sie mich angerufen haben«, antwortete er.

«Okay, okay. «Sie berichtete ihm, wie sie es geschafft hatte, Isabelle Ardery aus dem Weg zu gehen und ihre Internetrecherchen durchzuführen, die ihr immer mehr Spaß machten. Sie erzählte ihm von einer Studentin aus Barcelona, von ihrem Nachbarn Taymullah Azhar, den Lynley flüchtig kannte, der Kleinstadt Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos und den fünf Söhnen des Bürgermeisters jenes Kaffs. Die Pointe bewahrte sie sich bis zu Schluss auf:»Langer Rede kurzer Sinn: Es gibt keine Alatea Vasquez del Torres. Oder besser gesagt: Es gibt sie, und es gibt sie auch wieder nicht.«

«Hatten Sie nicht bereits festgestellt, dass Alatea wahrscheinlich aus einem anderen Zweig der Familie stammt?«

«Um mit einem meiner Lieblingssongs zu antworten, Sir: That was yesterday and yesterday’s gone.«