Zed entdeckte Nick Fairclough im selben Moment, als dieser ihn entdeckte. Er saß am hinteren Ende des Zelts, den Stuhl nach hinten gekippt, die Füße auf dem Tisch. Als ihre Blicke sich begegneten, sprang er auf und kam eilig auf Zed zu.
Er nahm Zed am Arm und bugsierte ihn nach draußen.»Das ist keine öffentliche Veranstaltung«, sagte er unwirsch. Anscheinend war Zed in eine Sitzung der Anonymen Alkoholiker oder einer ähnlichen Organisation geraten, dachte er. Und es war ziemlich offenkundig, dass Nick Fairclough nicht begeistert war über das Wiedersehen. Tja, das ließ sich nun mal nicht ändern.
«Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten«, sagte Zed.
«Da werden Sie sich noch etwas gedulden müssen«, entgegnete Nick.»Wie Sie sehen, bin ich gerade in einer Versammlung.«
«Ich fürchte, das kann nicht warten«, sagte Zed und zückte sein Notizheft.
Faircloughs Augen wurden schmal.»Was hat das zu bedeuten?«
«Ich möchte mit Ihnen über Lucy Keverne reden.«
«Wie bitte? Über wen?«
«Lucy Keverne. Oder vielleicht kennen Sie sie unter einem anderen Namen? Sie ist die Leihmutter, die Sie und Ihre Frau angeheuert haben.«
Fairclough sah ihn an, als fragte er sich, ob Zed den Verstand verloren hatte.
«Leihmutter?«, wiederholte Fairclough.»Was soll der Blödsinn?«
«Ich würde gern mit Ihnen darüber reden, was Sie mit Lucy Keverne vereinbart haben. Welchen Deal Sie mit ihr ausgehandelt haben.«
«Deal?«, sagte Nicholas Fairclough.»Es gibt keinen Deal. Wovon zum Teufel reden Sie überhaupt?«
Bingo, dachte Zed voller Genugtuung. Jetzt hatte er seine Story.
«Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen«, sagte er.
Manette hatte Kavehs Eltern und Verlobte ins Kaminzimmer geführt und ihnen Tee und Kekse vorgesetzt. Als sie jetzt die Treppe hochging, versuchte sie immer noch zu verdauen, was sie soeben erfahren hatte. Der Himmel wusste, warum sie den Leuten Tee angeboten hatte, dachte sie, wahrscheinlich aus lauter Gewohnheit.
Die Verwirrung darüber, wer Ian Cresswell gewesen war, hatten sie schnell beseitigen können. Es hatte sich herausgestellt, dass Kaveh — soweit seine Eltern informiert waren — bei einem Herrenhausbesitzer zur Miete gewohnt hatte, dessen Vornamen ihr Sohn nie erwähnt hatte. Dann war der Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen, und zu Kavehs großer Verwunderung hatte er in seinem Testament Kaveh als Alleinerben eingesetzt. Natürlich brauchte Kaveh gar kein Haus, wie seine Eltern ihm immer wieder zu verstehen gegeben hatten, denn er und seine Frau könnten zu seinen Eltern ziehen und es wie seine Landsleute halten, die traditionell in Großfamilien zusammenlebten. Aber Kaveh sei ein moderner junger Mann, beeinflusst vom europäischen Lebensstil, und in England zogen junge Männer nun mal nicht mit ihrer Frau zu den Eltern. In diesem Fall sei es sogar umgekehrt. Kaveh bestehe darauf, dass seine Eltern zu ihm zogen. Sie seien sehr glücklich, beteuerten sie, dass sie nun endlich die lang ersehnten Enkelkinder bekommen würden.
Wie wenig diese Leute über ihren Sohn wussten, war unglaublich, aber Manette wollte nicht diejenige sein, die diese Seifenblase zum Platzen brachte. Die junge Frau tat ihr leid, denn sie würde einen Mann heiraten, der wahrscheinlich ein ähnliches Doppelleben führen würde, wie Ian es getan hatte. Doch daran konnte Manette nichts ändern. Und selbst wenn sie sich ein Herz fasste und sagte:»Verzeihen Sie, wissen Sie denn nicht, dass Kaveh homosexuell ist?«, was würde das bringen, außer dass es die Eltern und die Verlobte in ein Chaos stürzte, das sie, Manette, nichts anging? Sollte Kaveh doch tun, was er wollte. Seine Angehörigen würden die Wahrheit schon irgendwann herausfinden. Oder auch nicht. Im Moment hatte Manette weiß Gott andere Sorgen. Sie musste Tim finden. Wenigstens wusste sie jetzt, warum er weggelaufen war. Zweifellos hatte Kaveh ihm von seinen Zukunftsplänen erzählt. Und das war für den armen Kerl zu viel gewesen.
Aber was hatte er jetzt vor? Sie ging zurück in Tims Zimmer in der Hoffnung, dass Freddie ihr inzwischen darauf eine Antwort würde geben können.
Freddie saß immer noch an Tims Laptop, doch er hatte ihn so gedreht, dass Manette, wenn sie zur Tür hereinkam, den Bildschirm nicht sehen konnte. Sein Gesichtsausdruck war ernst.
«Was hast du gefunden?«, fragte Manette.
«Pornofotos. Und nicht nur neueren Datums.«
«Was denn für Pornofotos?«Sie wollte hinter ihn treten, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen, aber er hob abwehrend eine Hand.»Das möchtest du nicht sehen, Darling.«
«Was ist es denn?«
«Es fängt relativ harmlos an, nackte Frauen, die die Beine breitmachen, das Übliche eben. Das ist normal, dass Jungs sich so was ansehen.«
«Du etwa auch?«
«Na ja, ich stand mehr auf Brüste. Aber die Zeiten ändern sich.«
«Und dann?«
«Nun ja, dann hab ich meine erste Freundin kennengelernt.«
«Freddie, ich rede von Tims Computer. Ist da noch mehr?«
«Ja. Dann kommen Bilder von Männern und Frauen beim Sex.«
«Das ist doch auch normal, oder?«
«Eigentlich ja. Aber dann folgen Bilder, auf denen Männer es mit Männern treiben.«
«Vielleicht wegen Ian und Kaveh? Oder vielleicht hat er selbst solche Neigungen?«
«Möglich. Sogar wahrscheinlich. Ich denke, dass Tim verstehen wollte. Die beiden. Sich selbst. Was weiß ich. «Doch Manette merkte Freddie an, dass das noch nicht alles war.
«Und was hast du noch gefunden, Freddie?«, fragte sie.
«Na ja, später sind es keine Fotos mehr, sondern Filme. Live-Aufnahmen. Und es sind andere Beteiligte. «Er rieb sich das Kinn, und das Geräusch, das durch seine Bartstoppeln entstand, hatte etwas Tröstliches, auch wenn sie nicht hätte sagen können, warum.
«Andere Beteiligte?«
«Männer und Jungs«, sagte Freddie.»Kleine Jungs, Manette. Vielleicht zehn, zwölf Jahre alt. Und die Filme …«Freddie sah sie voller Sorge an.»Kleine Jungs mit älteren Männern. Das heißt, es ist immer nur ein Junge, aber manchmal sind es mehrere Männer. Sie stellen berühmte Szenen nach, zum Beispiel das letzte Abendmahl, nur dass ›Jesus‹ seinen Jüngern nicht die Füße wäscht, und ›Jesus‹ ist vielleicht neun Jahre alt.«
«Großer Gott. «Manette versuchte zu verstehen, wie es gekommen war, dass Tim sich zuerst für nackte Frauen interessiert hatte, dann für Sex zwischen Männern und Frauen und dann für Sex zwischen Männern und schließlich für Sex zwischen Männern und kleinen Jungen. Sie wusste nicht genug über pubertierende Jungen, um zu wissen, ob das noch unter normale Neugier fiel oder nicht, aber sie fürchtete, dass das nicht mehr normal war.»Was sollen wir denn bloß …?«Sie brachte es nicht fertig, die Frage zu Ende auszusprechen, weil sie nicht wusste, ob sie irgendetwas tun konnten, außer die Polizei zu informieren und einen Psychologen einzuschalten und auf das Beste zu hoffen.»Dass er im Internet nach solchen Sachen sucht … Wir müssen es natürlich Niamh sagen. Andererseits, was soll das nützen?«
Freddie schüttelte den Kopf.»Er sucht das Zeug nicht im Internet, Manette.«
«Was? Woher hat er es denn sonst?«
«Ich habe jede Menge E-Mails von jemandem gefunden, der sich Toy4You nennt. Sie führen alle in einen Chatroom für Fotografie. Ich nehme an, dass es in diesem Chatroom verschiedene Zugänge zu unterschiedlichen Fototechniken oder zu Fotomodellen gibt, zu skurrilen Aufnahmen und Nacktfotos und zu bestimmten Personen, in deren private Chatrooms man gelangen kann. Das Internet heißt nicht zufällig Internet. Die Fäden des Netzes führen überallhin. Man braucht ihnen nur zu folgen.«