«Das weiß ich nicht.«
«Ich kann ihn lieben. Ich kann seine Geliebte sein. Ich kann ihm ein Zuhause schaffen und alles für ihn tun, was ein Mann sich nur von einer Frau wünschen kann. Nur das eine nicht. Wenn ich mich von einem Arzt untersuchen lasse, findet er heraus, warum ich immer noch nicht schwanger bin … Ich habe Nicky von Anfang an belogen, weil ich es gewöhnt war zu lügen, weil wir das alle tun, weil wir das tun müssen, um in der Welt zu bestehen. Der einzige Unterschied zwischen mir und all den anderen, die die ›Transition‹ vom Mann zur Frau durchgeführt haben, besteht darin, dass ich es vor dem Mann, den ich liebe, geheim gehalten habe, weil ich fürchtete, dass er mich nicht heiraten würde, wenn er die Wahrheit wüsste. Weil ich Angst hatte, dass er mich dann nicht an einen Ort mitnehmen würde, wo ich vor Raul Montenegro in Sicherheit wäre. Das ist meine Sünde.«
«Sie wissen, dass Sie es ihm sagen müssen.«
«Ja, irgendetwas werde ich unternehmen müssen«, antwortete sie.
Er nahm gerade seine Autoschlüssel aus der Tasche, als Deborah vorfuhr. Sie hielt neben dem Healey Elliott, stieg aus und schaute ihn an. Zumindest, dachte er, besaß sie den Anstand, reuig zu wirken.
«Tut mir leid, Tommy«, sagte sie.
«Hm«, erwiderte er.»Na ja.«
«Hast du die ganze Zeit auf mich gewartet?«
«Nein. Ich war schon auf dem Weg nach London, ungefähr eine Stunde von hier. Barbara hat mich auf dem Handy angerufen. Es gab noch ein paar ungeklärte Fragen. Deshalb bin ich zurückgekommen.«
«Was für Fragen?«
«Wie sich herausgestellt hat, keine, die etwas mit Ian Cresswells Tod zu tun haben. Wo warst du? Bist du noch mal nach Lancaster gefahren?«
«Du kennst mich zu gut.«
«Ja. Und das wird immer so bleiben, nicht wahr?«Er schaute zur Bucht hinunter. Die Nebelbank hatte die Ufermauer erreicht, wälzte sich darüber und breitete sich bereits über den Rasen aus. Er musste sofort losfahren, wenn er die Autobahn erreichen wollte, ehe der Nebel undurchdringlich wurde. Andererseits würde der Nebel das Autofahren in ganz Cumbria gefährlich machen, und er sagte sich, dass er sich nicht guten Gewissens ohne Deborah auf den Weg machen konnte.
«Ich musste noch einmal mit Lucy Keverne sprechen, aber ich wusste, dass du es mir nicht erlauben würdest«, sagte Deborah.
Lynley hob eine Braue.»Ich habe dir überhaupt nichts zu ›erlauben‹. Du bist ein freier Mensch, Deborah. Ich habe dir am Telefon gesagt, dass ich mir lediglich deine Gesellschaft auf der langen Fahrt gewünscht hätte.«
Sie ließ den Kopf hängen. Ihre prächtiges rotes Haar fiel über ihre Schultern nach vorne, und er sah, dass die feuchte Luft bereits dabei war, ihr Werk zu tun. Strähne um Strähne kringelte sich zu Löckchen, als führten sie ein Eigenleben. Medusa, dachte er. Diese Wirkung hatte sie immer schon auf ihn gehabt.
«Ich hatte übrigens recht«, sagte sie.»Ich meine damit, dass mehr hinter der Sache steckt, als Lucy Keverne mir anfangs gesagt hat. Aber ich glaube nicht, dass es ausreicht für ein Mordmotiv.«
«Und was hast du in Erfahrung gebracht?«
«Dass Alatea Lucy dafür bezahlen will, dass sie ein Kind für sie austrägt, also dass sie ihr nicht nur die Unkosten erstatten, sondern wesentlich mehr geben will. Die Geschichte ist also gar nicht so sensationell, wie ich dachte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wegen so etwas einen Mord begehen würde.«
Daraus schloss Lynley, dass Lucy Keverne — wer auch immer sie sein mochte — entweder nicht die ganze Wahrheit über Alatea Fairclough wusste oder dass sie Deborah nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Denn die wirkliche Geschichte war mehr als sensationell. Sie enthielt die drei Faktoren, die alles menschliche Verhalten bestimmten — Sex, Macht und Geld —, und jeder, der sie kannte, würde in Versuchung geraten, alles aus ihr herauszuholen, was sie zu bieten hatte. Aber Mord? Wahrscheinlich lag Deborah mit ihrer Einschätzung richtig. Das Einzige, was als Mordmotiv in Frage kam, war ein Detail, von dem Lucy Keverne nichts wusste, wenn man Alatea Fairclough glauben konnte. Und Lynley glaubte ihr.
«Und jetzt?«, fragte er Deborah.
«Ich bin hergekommen, um mich bei Alatea zu entschuldigen. Ich habe ihr tagelang die Hölle heißgemacht, und ich fürchte, ich habe ihre Pläne mit Lucy vereitelt. Das war nicht meine Absicht, aber dieser fürchterliche Journalist ist in unser Gespräch geplatzt und hat Lucy erzählt, ich sei eine Polizistin von Scotland Yard, die nach Cumbria geschickt wurde, um die Umstände von Ian Cresswells Tod aufzuklären …«Sie seufzte, schüttelte ihr Haar nach hinten und schob sich eine Strähne aus dem Gesicht, genau wie Alatea.»Ich glaube, ich habe Lucy Keverne Angst eingejagt, so dass sie sich jetzt nicht mehr traut, für Alatea ein Kind auszutragen. Ich habe Alatea schreckliches Unrecht angetan. Jetzt muss sie wieder ganz von vorne anfangen und sich eine neue Leihmutter suchen. Ich dachte … Na ja, wir haben doch etwas gemeinsam, sie und ich, nicht wahr? Wenigstens das möchte ich ihr gern sagen. Und sie um Verzeihung bitten. Und ihr sagen, wer ich wirklich bin.«
Sie meinte es gut, dachte Lynley, doch er fragte sich, ob sie es Alatea damit nicht noch schwerer machen würde. Andererseits kannte Deborah nicht die ganze Wahrheit, und von ihm würde sie sie nicht erfahren. Dazu bestand keine Notwendigkeit. Seine Arbeit hier in Cumbria war erledigt, Ian Cresswell war tot, und wer Alatea Fairclough war und was sie ihrem Mann anvertraute oder nicht, ging nur den lieben Gott etwas an.
«Wartest du auf mich?«, fragte Deborah.»Ich brauche nicht lange. Wir könnten uns im Hotel treffen.«
Er überlegte. Es schien die beste Lösung zu sein.»Aber falls du es dir anders überlegst«, sagte er,»gib mir diesmal Bescheid, okay?«
«Versprochen«, sagte sie.»Aber ich werde es mir nicht anders überlegen.«
Zed fuhr nicht zurück zu seiner Pension in Windermere. Das hätte ihn viel zu lange aufgehalten bei dem, was ihm noch in seinem Hinterstübchen herumgeisterte. Und er hatte eine brandheiße Geschichte, die er so schnell wie möglich schreiben musste, damit er die Druckpressen noch rechtzeitig anhalten konnte. Schon lange hatte er nicht mehr so unter Spannung gestanden wie jetzt.
Nick Fairclough hatte versucht, alles vor ihm zu verbergen, aber das war ihm so gut gelungen wie einem dicken Mann, der versuchte, sich hinter einem Laternenmast zu verstecken. Der arme Mann hatte nicht das Geringste von dem geahnt, was seine Frau mit Lucy Keverne ausgeheckt hatte. Zed vermutete, dass die beiden Frauen Nick erst hatten einweihen wollen, wenn Lucy die halbe Schwangerschaft schon hinter sich hatte und es zu spät war für eine Abtreibung. So genau wusste Zed nicht, wie die Sache ablaufen sollte, da Nick sich darüber ausschwieg, wie das mit seinem Sperma geplant war oder ob Alatea sich bereits welches besorgt hatte, aber das war auch alles nicht so wichtig. So wie Zed das sah, hatte er es mit einem Ehemann zu tun, der von zwei Frauen reingelegt worden war, und zwar aus irgendeinem äußerst interessanten Grund, der garantiert ans Tageslicht kommen würde, sobald der erste Teil der Geschichte auf der Titelseite der Source erschien. Normalerweise dauerte es danach nicht länger als vierundzwanzig Stunden, bis die üblichen Verdächtigen aus ihren Verstecken gekrochen kamen und ausplauderten, was sie wussten, und spätestens dann würde Zed alles über Nick, Lucy und Alatea erfahren. Man sollte nicht zu viele Metaphern miteinander vermischen, dachte Zed, aber bei dieser Art von Journalismus war es einfach so, dass eine Story auf die nächste folgte wie der Tag auf die Nacht und die Nacht auf den Tag. Zuerst musste er jedoch die Story, soweit er sie bisher hatte, auf die erste Seite der Source bringen. Und was für eine saftige Story das war: Scotland Yard ermittelte in Cumbria in einem Mordfall und stolperte dabei zufällig auf die perfide Verschwörung zwischen einer heuchlerischen Ehefrau und einer hinterlistigen Stückeschreiberin, die bereit war, ihren Unterleib wie ein billiges Zimmer zu vermieten. Wahrscheinlich konnte man auch noch Anspielungen auf Prostitution unterbringen, dachte Zed. Denn wenn Lucy Keverne einen Teil ihres Körpers gegen Geld zur Verfügung stellte, war es doch naheliegend, dass sie dasselbe auch mit anderen Körperteilen tat.