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Aber sosehr ihr Nicky, der in diesem seltsamen Teil der Welt aufgewachsen war, das alles ans Herz gelegt hatte, die Vorstellung erschien Alatea wie der reine Wahnsinn. Sie steckte bereits bis zu den Oberschenkeln im Sand, an schnelles Handeln war also nicht mehr zu denken. Sie musste sich hinlegen. Aber sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden.»Du musst es tun, du musst«, sagte sie sich, aber sie fürchtete nur, dass der Sand ihren Körper verschlingen, ihr in Ohren und Nase dringen würde.

Sie hätte so gern gebetet, aber ihr Verstand brachte keine Worte zustande, mit denen sie hätte ein Wunder erbitten können. Stattdessen tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf, und das Eindrücklichste war eins des dreizehnjährigen Santiago Vasquez del Torres, der von zu Hause weggelaufen und nur bis zur nächsten Stadt gekommen war. In einem Kleid von Elena, zurechtgemacht mit Schminkzeug von Elena, mit einem Tuch über dem Kopf, das sein Haar bedeckte, Haar, das zu kurz war für ein Mädchen und zu lang für einen Jungen, hatte er in der Kirche Zuflucht gesucht. In der Tasche, die er bei sich trug, befanden sich ein bisschen Kleingeld, ein paar Kleider zum Wechseln und drei Lippenstifte.

Als der Priester sie entdeckt hatte, hatte er sie Tochter genannt und gefragt, ob sie gekommen sei, um zu beichten. Eine Beichte schien der richtige Weg zu sein —»Geh, Santiago«, hatte Elena gesagt,»geh den Weg, den Gott dir zeigt.«—, und Santiago Vasquez del Torres hatte gebeichtet. Keine Sünden, sondern den Wunsch nach Hilfe, denn wenn er nicht sein dürfe, was er sein müsse, werde er seinem Leben ein Ende setzen.

Der Priester hatte zugehört. Er hatte von der schweren Sünde der Verzweiflung gesprochen. Er hatte gesagt, Gott mache keine Fehler. Und dann hatte er gesagt:»Komm mit mir, Kind«, und sie waren zusammen ins Pfarrhaus gegangen, wo der Priester ihm die Absolution erteilte und ihm eine warme Mahlzeit aus Kartoffeln und Fleisch vorsetzte, die er ganz langsam gegessen hatte, während er sich unter den misstrauischen Blicken der Haushälterin des Priesters in der einfachen Küche umgesehen hatte. Nach dem Essen hatte der Priester ihn in ein Wohnzimmer geführt, wo er sich ausruhen sollte von der langen, beschwerlichen Wanderung. Und da er tatsächlich furchtbar erschöpft gewesen war, war er auf dem Sofa eingeschlafen.

Sein Vater hatte ihn geweckt. Mit versteinerter Miene hatte er gesagt» Danke, Pater «und seinen missratenen Sohn am Arm gepackt.»Danke für alles. «Dann hatte er der Kirche oder vielleicht auch dem Priester persönlich eine große Summe gespendet für seinen Verrat und Santiago wieder mit nach Hause genommen.

Um ihn zu kurieren, hatte sein Vater ihn verprügelt. Dann hatte er ihn in ein leeres Zimmer gesperrt, um ihm Zeit zu geben, über die Sünde nachzudenken, die er gegen Gottes Gebote und gegen seine Familie und deren guten Namen verübt hatte. Und erst wenn er gelobe, mit diesen Verrücktheiten aufzuhören, werde er ihn wieder freilassen, hatte der Vater gedroht.

Und so hatte Santiago versucht, ein Mann zu werden. Aber die Bilder von nackten Frauen, die die Brüder sich heimlich anschauten, hatten in ihm nur den Wunsch verstärkt, selbst einen weiblichen Körper zu besitzen.

Er entwickelte sich nicht wie seine Brüder: keine Behaarung an Armen und Beinen, keine Behaarung an der Brust, kein Bartwuchs. Es war offensichtlich, dass etwas mit ihm nicht stimmte, doch für seinen Vater lag die einzige Lösung des Problems darin, ihn abzuhärten. Er schickte ihn zum Boxen, nahm ihn mit auf die Jagd, zum Bergsteigen und Skilaufen, damit er sich zu dem Mann entwickelte, zu dem Gott ihn bestimmt hatte.

Zwei endlose Jahre lang quälte Santiago sich ab. Zwei Jahre lang sparte er jeden Peso. Und mit fünfzehn lief er wieder von zu Hause weg, diesmal für immer. Er fuhr mit dem Zug nach Buenos Aires, wo niemand sein Geheimnis kannte.

Alatea dachte an die Zugfahrt, an das Geräusch der Lokomotive, an die vorbeifliegende Landschaft. Sie erinnerte sich daran, wie sie den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe gelegt hatte. Wie sie die Füße auf ihrem Koffer abgestellt hatte. Wie der Schaffner gekommen war, ihren Fahrschein abgeknipst und gesagt hatte: Gracias, señorita. Und wie sie von da an immer nur eine Señorita gewesen war.

Die Erinnerung war so lebhaft, dass sie beinahe meinte, die Lokomotive wieder zu hören. Das Rumpeln und Kreischen der Räder des Zugs, der sie in die Zukunft entführte, fort von ihrer Vergangenheit.

Als das Wasser kam, begriff sie, dass es die Flut gewesen war, was sie gehört hatte. Und jetzt begriff sie auch, warum vor einer Weile die Sirenen geheult hatten. Das war die Flutwelle, die so schnell kam wie eine Herde galoppierender Pferde. Das bedeutete, dass das Wasser sie aus dem Treibsand befreien würde. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass es Dinge gab, von denen nichts und niemand sie jemals befreien konnte.

Sie war froh, dass sie nicht im Sand ersticken würde, wie sie befürchtet hatte. Und als das Wasser sie traf, wusste sie, dass sie auch nicht ertrinken würde. In solchem Wasser ertrank man nicht. Man legte sich einfach hin und schlief ein.

11. November

ARNSIDE — CUMBRIA

Sie hatten wirklich nichts tun können. Sie hatten es alle gewusst. Und alle hatten sich das Gegenteil vorgemacht. Die Küstenwache war im Nebel hinausgefahren, von Walney Island in Richtung Lancaster Sound. Aber von dort aus war es eine weite Strecke bis in die Morecambe-Bucht und noch weiter bis zum Kent Channel. Alatea hätte irgendwo sein können, auch das hatten sie alle gewusst. Wenn es nur die Flutwelle gewesen wäre, hätte Alatea vielleicht eine geringe Chance gehabt. Aber zusammen mit dem dichten Nebel war die Situation von Anfang an aussichtslos gewesen. Sie fanden Alatea nicht.

Nachdem die Flut hoch genug gestiegen war, hatte auch der RNLI ein Boot hinausgeschickt. Aber schon sehr bald war klar geworden, dass sie nach einer Toten suchten, und da es Unsinn war, für eine Tote Menschenleben zu riskieren, waren die Männer wieder umgekehrt. Nur der Wattführer könne ihnen jetzt noch helfen, hatten sie Lynley bei ihrer Rückkehr erklärt, denn dessen Aufgabe in einer solchen Situation bestand darin einzuschätzen, an welcher Stelle die Leiche wahrscheinlich angespült würde. Er würde ihnen helfen, die Leiche so schnell wie möglich zu finden, denn wenn das nicht geschah, sobald der Nebel sich auflöste, würde sie wahrscheinlich nie gefunden. Das Meer würde sie fortspülen, und der Sand würde sie unter sich begraben. Manches verschlinge die Bucht für immer, und manches gebe sie erst nach hundert Jahren wieder preis. So sei die Bucht nun einmal, erklärte der Wattführer. Wild in ihrer Schönheit und unerbittlich in ihrer Vergeltung.

Lynley und Deborah waren schließlich ins Haus gegangen, nachdem sie Stunde um Stunde das Feuer am Lodern gehalten hatten, selbst dann noch, als die Flut längst in die Bucht zurückgekehrt war und alle wussten, dass keine Hoffnung mehr bestand. Aber Nicholas hatte sich nicht von dem Feuer losreißen können, und so hatten sie mit ihm da draußen ausgeharrt. Erst als es dunkel wurde und die Erschöpfung und die Erkenntnis, dass es zwecklos war weiterzumachen, ihm alle Kraft raubten, hatte er endlich aufgegeben. Lynley und Deborah waren ihm unter den mitleidvollen Blicken der Dorfbewohner ins Haus gefolgt.

Dort hatte Lynley Bernard Fairclough angerufen und ihm mitgeteilt, die Frau seines Sohnes werde vermisst und sei wahrscheinlich in der Bucht ertrunken. Anscheinend sei sie zu einem Spaziergang aufgebrochen und von der Flutwelle überrascht worden.

«Wir kommen sofort«, hatte Bernard Fairclough gesagt.»Sagen Sie Nicholas, wir sind unterwegs.«