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«Sir«, rief sie ins Handy.»Sir!«Aber es hatte keinen Zweck.

Die Menge tobte, und Lynley sagte zu jemandem:»Ist das ein Punkt?«Dann sagte er ins Handy:»Barbara, kann ich Sie zurückrufen? Ich verstehe kein Wort.«

«In Ordnung«, sagte sie. Sie überlegte, ob sie ihm eine SMS schicken sollte. Aber er war gerade so gelöst und glücklich, wie konnte sie ihn da herausreißen, wo sie im Grunde ihres Herzens wusste, dass er sowieso nichts tun konnte? Von offizieller Seite konnte niemand etwas tun. Was auch immer sie unternahm, es musste vollkommen inoffiziell geschehen.

Sie betrachtete ihr Handy. Dachte an Hadiyyah. Sie kannte sie erst seit zwei Jahren, es kam ihr jedoch so vor, als würde sie das fröhliche Mädchen mit den Zöpfen schon kennen, seit es auf der Welt war. Plötzlich fiel Barbara auf, dass Hadiyyah die letzten beiden Male, als sie sie gesehen hatte, gar keine Zöpfe gehabt hatte, und sie fragte sich, wie sie ihr Haar wohl demnächst tragen würde.

Was wird sie aus dir machen? dachte Barbara. Wie wird sie dir deine Verkleidung erklären? Was wird sie dir über euer Reiseziel erzählen, wenn du erst einmal begreifst, dass sie nicht vorhat, dich zu deinen Halbgeschwistern zu bringen? Wohin wird eure Reise euch führen? In wessen Arme wird deine Mutter sich flüchten?

Denn darauf lief es letztlich hinaus. Und wie sollte man Angelina Upman daran hindern, ihr Kind mitzunehmen, eine Mutter, die aus» Kanada «zurückgekommen war, oder wo und bei wem auch immer sie gewesen war? Denn natürlich war sie jetzt unterwegs zu ebendiesem Mann, den sie genauso wie Azhar verführt hatte, so wie sie wahrscheinlich jeden dazu verführt hatte, ihr jeden Blödsinn zu glauben … Was hatte Angelina getan, und wohin war sie unterwegs?

Unruhig ging Barbara in ihrem Bungalow auf und ab. Sie würde jedes Londoner Taxi überprüfen, dachte sie. Jeden Bus. Sie würde sich jedes Band aus den Überwachungskameras des U-Bahnhofs Chalk Farm ansehen. Dann die Fernbahnhöfe überprüfen. Den Eurostar. Die Flughäfen. Luton, Stansted, Gatwick, Heathrow. Jedes Hotel. Sämtliche Pensionen. Jede Wohnung und jedes mögliche Versteck in London und Umgebung. Die Kanalinseln. Die Isle of Man. Die großen und die kleinen Hebriden. Europa. Frankreich, Spanien, Italien, Portugal …

Wie lange würde man brauchen, um eine schöne, blonde Frau mit einem dunkelhaarigen kleinen Mädchen zu finden, das schon bald nach seinem Vater fragen würde, das es irgendwie schaffen würde, seinen Vater anzurufen und zu sagen:»Daddy, Daddy, Mummy weiß nicht, dass ich dich anrufe, aber ich will nach Hause …«

Also, warten wir auf den Anruf? fragte sich Barbara. Oder suchen wir sie? Oder beten wir einfach nur? Reden wir uns ein, dass Angelina nichts Schlimmes im Schilde führt und nichts Schlimmes passieren wird, weil sie ihr Kind liebt und weiß, dass Hadiyyah zu ihrem Vater gehört, der ihretwegen alles aufgegeben hat und ohne sie nicht leben kann?

Gott, sie wünschte, Lynley wäre da. Er würde wissen, was zu tun war. Er würde das Richtige sagen. Er würde sich die ganze schreckliche Geschichte anhören, und er würde den richtigen Ton finden, um Azhar Hoffnung zu machen. Sie selbst wusste nicht, wie sie es anstellen sollte, aber irgendetwas musste sie tun. Sie musste etwas sagen, irgendetwas unternehmen, denn wenn sie das nicht tat, was für eine Freundin war sie dann?

Es war fast zehn Uhr, als Barbara schließlich in ihr kleines Badezimmer ging. Lynley hatte noch nicht zurückgerufen, doch er würde es tun, das wusste sie. Er würde sie nicht im Stich lassen, denn DI Lynley ließ niemanden im Stich. So war er nicht. Er würde so bald wie möglich anrufen, und an den Gedanken klammerte sich Barbara, schließlich musste sie an irgendetwas glauben.

Sie drehte das Wasser in der Dusche auf und wartete darauf, dass es warm wurde. Sie fror plötzlich, aber nicht vor Kälte, denn der elektrische Kamin hatte den kleinen Wohnraum ganz gut aufgewärmt. Nein, etwas viel tiefer in ihrem Innern ließ sie frösteln. Sie betrachtete sich im Spiegel, während es aus der Dusche dampfte. Sie betrachtete die Frau, die sie auf Geheiß anderer geworden war. Sie dachte an die Schritte, die unternommen werden mussten, um Hadiyyah zu finden und zu ihrem Vater zurückzubringen. Es waren viele Schritte, aber Barbara wusste, welcher der erste war.

Sie ging in die Küche und nahm eine Schere aus der Schublade, eine gute, scharfe Schere, mit der man leicht Hühnerknochen durchtrennen konnte, obwohl sie sie zu diesem Zwecke noch nie benutzt hatte. Oder zu irgendeinem anderen Zweck. Aber sie war perfekt geeignet für den Zweck, für den Barbara sie jetzt brauchte.

Sie ging zurück ins Bad und zog sich aus.

Sie stellte die Wassertemperatur ein.

Sie trat in die Duschkabine.

Und begann, sich die Haare abzuschneiden.

6. September 2010
Whidbey Island, Washington

Danksagung

Als Amerikanerin, die Romane schreibt, die in England spielen, stehe ich ständig in der Schuld bei Menschen, die bereit sind, mir bei meinen Recherchen vor Ort behilflich zu sein. In diesem Fall gilt mein Dank den Angestellten und den Eigentümern der Gilpin Lodge in Cumbria, einem gemütlichen Ort, von dem aus ich meine Streifzüge durch die Landschaft machen konnte, in der dieser Roman spielt. Cedric Robinson, der Queen’s Guide to the Sands, der in der Morecambe Bay aufgewachsen ist und seit Jahrzehnten andere sicher durch die Bucht führt, hat mir unschätzbar wertvolle Informationen zur Verfügung gestellt. Mr. Robinsons Frau Olive hat mich in dem achthundert Jahre alten Cottage des Ehepaars willkommen geheißen und ebenso wie ihr Mann stundenlang mit mir über Cumbria geplaudert. Swati Gamble von Hodder & Stoughton hat einmal mehr bewiesen, dass sie, ausgerüstet mit Internet und Telefon, alles möglich machen kann.

In den Vereinigten Staaten haben mir Bill Solberg und Stan Harris wertvolle Hinweise gegeben, was das Leben im Lake District angeht, und eine zufällige Begegnung mit Joanne Herman in einem Fernsehstudio in San Francisco vor einer Talkshow brachte mich in Besitz des Buchs Transgender Explained. Caroline Cosseys Buch My Story hat mir den Schmerz und die Verwirrung nahegebracht, die durch Geschlechtsdysphorie entsteht, und mich ahnen lassen, welchen Vorurteilen diejenigen begegnen, die sich entschließen, entsprechende Schritte zu unternehmen.

Ich danke meinem Mann Thomas McCabe für seine Unterstützung, meiner persönlichen Assistentin Charlene Coe für ihre unerschütterlich gute Laune und Susan Berner und Debbie Cavanaugh für ihre Bereitschaft, stets meine ersten Romanentwürfe zu lesen. Ebenso gilt mein Dank meinem Agenten Robert Gottlieb von der Trident Media Group sowie den Mitarbeitern meines englischen Verlags Hodder & Stoughton, Sue Fletcher, Martin Nield und Karen Geary. Dieser Roman kommt bei dem amerikanischen Verlag Dutton heraus, und ich danke meinem neuen Verleger Brian Tart für sein Vertrauen in meine Arbeit.

Und schließlich danke ich meinen Lesern für ihr Interesse an Cumbria und dem Lake District: Alle Orte in diesem Roman sind wie in allen meinen Büchern real. Allerdings habe ich mir wie immer ein paar literarische Freiheiten erlaubt: Ireleth Hall steht für Levens Hall, das Anwesen von Hal und Susan Bagot; das Bootshaus der Faircloughs steht im Fell Foot Park; Arnside House steht für Blackwell, das herrliche Arts-and-Crafts-Gebäude am Ufer von Lake Windermere; die Bryan Beck Farm steht für ein elisabethanisches Herrenhaus namens Townend; und aus dem Dorf Bassenthwaite wurde das Dorf Bryanbarrow, einschließlich der Enten. Mit Örtlichkeiten wie diesen Gott zu spielen ist Teil des Vergnügens am Romaneschreiben.

Elizabeth George

Whidbey Island, Washington