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So früh am Nachmittag hatte Zed Benjamin noch einen guten Tisch im Willow & Well ergattern können. Schon seit knapp einer Stunde saß er hier und schaute aus dem Fenster in der Hoffnung, dass etwas passierte. Die Kälte zog durch die Ritzen herein wie ein Vorbote des Todesengels, aber solange er an diesem zugigen Platz hocken blieb, würde niemand etwas gegen die wollene Skimütze sagen, die er auf dem Kopf trug. Die Mütze hatte er sich angeschafft, damit die Leute sich nicht so leicht an ihn erinnerten, denn darunter konnte er sein feuerrotes Haar komplett verschwinden lassen. An seiner Größe konnte er leider nichts ändern, außer sich möglichst krumm zu halten, wenn es nötig war.

Und genau das tat er. Anfangs hatte er sich über sein Bierglas gebeugt, dann war er auf seinem Stuhl nach unten gerutscht, hatte die Beine unterm Tisch ausgestreckt, bis ihm der Hintern eingeschlafen war, hatte sich mal so, mal so hingesetzt, während sich in dem Teil des Dorfes Bryanbarrow, den er durch das Fenster einsehen konnte, nichts Erhellendes ereignete.

Seit drei Tagen war er jetzt in Cumbria, seit drei Tagen suchte er nach etwas, das seine Story über Nicholas Fairclough sexy machte und Rodney Aronson davon abhielt, sie in die Tonne zu treten. Bisher hatte er leider nichts weiter zu Papier gebracht als die ersten fünfzehn Zeilen eines Gedichts, das er allerdings auf keinen Fall erwähnen würde, wenn sein verhasster Chef sich bei ihm meldete. Tag für Tag rief Aronson an, um sich bedeutungsvoll bei Zed zu erkundigen, wie er vorankam, und ihn daran zu erinnern, dass diese Aktion voll und ganz auf seine eigenen Kosten ging. Als könnte er das vergessen, dachte Zed. Als hätte er sich nicht im billigsten Bed & Breakfast einquartiert, das er hatte finden können, als würde er nicht in einem winzigen Dachzimmer in einem der unzähligen Reihenhäuser hausen, die praktisch jede Straße in Windermere säumten, in diesem Fall in der Broad Street, in Fußnähe der öffentlichen Bibliothek. Er musste den Kopf einziehen, um sein Zimmer zu betreten, und praktisch den Limbo tanzen, wenn er sich darin bewegen wollte. Das Klo lag ein Stockwerk tiefer, und die Bude wurde nur durch die Wärme geheizt, die von unten hochstieg. Aber deswegen stimmte eben auch der Preis, und er hatte sofort zugeschlagen. Wie um die zahlreichen Unannehmlichkeiten wettzumachen, setzte ihm die Hauswirtin ein üppiges Frühstück vor, das von Porridge bis hin zu Backpflaumen alles umfasste, was man sich wünschen konnte, so dass Zed seit seiner Ankunft noch keinmal ein Mittagessen gebraucht hatte. Und das war gut so, weil er auf die Weise die Zeit nutzte, um herauszufinden, wer außer ihm selbst im Dorf herumschlich, um etwas über Ian Cresswells Tod in Erfahrung zu bringen. Aber wenn tatsächlich ein Detective von Scotland Yard hier oben in Cumbria war, um zu ermitteln, auf welche Weise der glücklose Vetter von Nicholas Fairclough ertrunken war, so hatte Zed ihn noch nicht aufgespürt. Und solange er ihn nicht zu Gesicht bekam, konnte er Das neunte Leben nicht in Neun Leben und ein Tod umschreiben, so wie Rodney Aronson es von ihm erwartete.

Natürlich wusste Aronson genau, wer der Detective von Scotland Yard war. Darauf hätte Zed einen Wochenlohn gewettet. Und er würde einen weiteren Wochenlohn darauf verwetten, dass Aronson vorhatte, Zed zu feuern, falls er diesen Detective nicht aufspürte. Oder falls es ihm nicht gelang, seine Geschichte sexy zu machen. Nur darum ging es bei dieser ganzen Sache: Rodney konnte nicht damit umgehen, dass Zed eine höhere Bildung und künstlerische Ambitionen hatte.

Nicht dass er bisher mit seinen Ambitionen weit gekommen wäre oder in Zukunft weit damit kommen würde. Sicher, Gedichte zu schreiben, war persönlich befriedigend, aber die Poesie verschaffte einem nun mal kein Dach über dem Kopf.

Dieser Gedanke erinnerte Zed an das Dach, das er zur Zeit in London über dem Kopf hatte. Und es erinnerte ihn an die Menschen, die sich unter diesem Dach aufhielten. Und an die Absichten dieser beiden Frauen, vor allem die Absichten seiner Mutter.

Gott sei Dank musste er sich im Moment darüber keine Gedanken machen, dachte Zed. Wenige Tage nach Yaffa Shaws Einzug — der so schnell erfolgt war, dass sogar seine Mutter gestaunt hatte — hatte die junge Frau ihm vor dem Bad aufgelauert, das sie zu teilen gezwungen waren. Verschwörerisch hatte sie ihm zugeraunt:»Keine Sorge, Zed. Okay?«Zed hatte angenommen, sie meinte die vor ihm liegende Reise in den Lake District. Doch dann dämmerte ihm, dass Yaffa über die kupplerischen Absichten seiner Mutter redete.

Zed sagte» Hä?«und fummelte am Gürtel seines Morgenmantels herum. Der Morgenmantel war ihm ebenso wie seine Schlafanzughose zu kurz, und da er nie Pantoffeln fand, die ihm passten, trug er wie üblich am frühen Morgen zwei verschiedene Socken an den Füßen. Er kam sich vor wie ein tapsiger Riese im Vergleich zu Yaffa, die schlank und adrett und in einer Farbe gekleidet war, die ihre Haut- und Augenfarbe betonte.

Yaffa drehte sich um und schaute in Richtung Küche, von wo Geschirrklappern zu hören war.»Hör zu, Zed«, sagte sie leise.»Ich habe einen Freund in Tel Aviv. Er studiert dort Medizin. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. «Sie schob sich eine Strähne aus dem Gesicht und schaute ihn mit einem spitzbübischen Funkeln in den Augen an.»Das hab ich ihr nicht gesagt«, flüsterte sie.»Auf diese Weise«— sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür zu dem Zimmer, das sie bewohnte —»spare ich eine Menge Geld. Und das bedeutet, dass ich nicht so viel arbeiten muss und einen zusätzlichen Kurs an der Uni belegen kann. Und wenn ich das in jedem Semester so machen kann, bin ich eher mit dem Studium fertig, und umso schneller bin ich wieder zu Hause bei Micah.«

«Ah«, sagte Zed.

«Als deine Mutter uns einander vorgestellt hat — also, dich und mich —, da war mir sofort klar, was sie im Schilde führt. Deshalb hab ich meinen Freund lieber nicht erwähnt. Ich brauchte das Zimmer — ich brauche ein Zimmer —, und ich bin bereit mitzuspielen, wenn du es auch bist.«

«Was?«Anscheinend war er nicht in der Lage, im Gespräch mit dieser jungen Frau jeweils mehr als ein Wort herauszubringen, und er war sich nicht ganz sicher, was das zu bedeuten hatte.

Sie sagte:»Wir spielen ihr eben ein bisschen Theater vor.«

«Theater?«

«Wir tun so, als würden wir einander mögen. Als würden wir uns ineinander verlieben. Und dann, irgendwann, wenn wir genug davon haben, breche ich dir das Herz. Oder du mir meins. Es spielt eigentlich keine Rolle, aber mit Rücksicht auf deine Mutter würde ich vorschlagen, dass ich dir deins breche. Wahrscheinlich müssen wir irgendwie am Telefon miteinander turteln, während du in Cumbria bist. Je länger wir das durchhalten, umso mehr Geld könnte ich sparen, und du hättest eine Weile Ruhe vor deiner Mutter. Natürlich müssten wir ab und zu auch ein bisschen rumschmusen oder so, aber dafür bräuchtest du nicht mit mir zu schlafen. Denn ich würde mich selbstverständlich weigern, deiner Mutter gegenüber so respektlos zu sein und es zu tun, solange ich unter ihrem Dach wohne und wir nicht verheiratet sind. Also, ich glaube, es könnte funktionieren. Was meinst du?«

Er nickte.»Ich verstehe. «Zwei Wörter. Ein Fortschritt.

«Und?«, fragte sie.»Bist du einverstanden?«

«Ja. «Dann der Durchbruch — vier Wörter:»Wann fangen wir an?«

«Beim Frühstück.«

Als Yaffa ihn dann beim Frühstück bat, ihr von der Geschichte zu erzählen, für die er in Cumbria recherchieren musste, ließ er sich auf das Spiel ein. Zu seiner Überraschung stellte sie sehr kluge Fragen, und seine Mutter warf ihm, beglückt über Yaffas gespieltes Interesse an seinen Angelegenheiten, einen bedeutungsvollen Blick zu. Zum Abschied hatte seine Mutter ihn enthusiastisch umarmt und ihm ins Ohr geflüstert:»Siehst du? Siehst du, mein Junge?«, und Yaffa hatte ihm unauffällig einen Zettel in die Jackentasche gesteckt, den er im Zug gelesen hatte:»Warte sechsunddreißig Stunden, dann ruf zu Hause an, und sag deiner Mutter, dass du mich sprechen möchtest. Und während sie unser Gespräch belauscht, geb ich dir meine Handynummer. Viel Erfolg in Cumbria, mein Freund. «Nach exakt sechsunddreißig Stunden hatte er daheim angerufen, und auch diesmal hatte es ihn überrascht, wie viel Spaß ihm das kurze Gespräch mit Yaffa gemacht hatte. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie mit offenen Karten spielten. Es gab keinen Druck. Und je weniger Druck man ihm machte, umso besser funktionierte er.