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Die waren natürlich in der Schule verboten. Die Externen durften zwar ein Handy mitbringen, mussten es aber jeden Morgen im Vorzimmer des Direktors abgeben, wo es in eine Liste eingetragen wurde. Wenn man es nachmittags wiederhaben wollte, musste man erst zum Schulleiter hoch, sich dort einen Abholzettel ausstellen lassen und damit zum Schulkiosk gehen, wo die Handys in einem Schließfach hinter der Kasse aufbewahrt wurden.

Diesmal war Tim der Letzte, der sein Handy abholte. Als Erstes überprüfte er seinen SMS-Eingang. Nichts. Es kribbelte ihm in den Fingern. Am liebsten hätte er das Handy irgendjemandem an den Kopf geworfen. Er ging den Weg hinunter zu der Stelle, wo er und die anderen Externen nach Schulschluss abgeholt wurden. Natürlich durften sie nur mit Leuten mitfahren, die offiziell bei der Schule eingetragen waren. Bei Tim waren es drei, aber jetzt, wo sein Vater tot war, waren es nur noch zwei, was eigentlich bedeutete, dass es nur noch einer war, denn seine Mutter käme nie im Leben auf die Idee, ihn von der Schule abzuholen. Kaveh war bisher der lästigen Pflicht brav nachgekommen, weil ihm nichts anderes übrig blieb und er noch nicht wusste, wie er sich davon befreien sollte.

Das juckte Tim nicht. Es war ihm egal, wer ihn abholte. Im Moment interessierte ihn nur der Deal, den er mit Toy4You vereinbart hatte, und die Tatsache, dass auf seine letzte Nachricht, die er am Morgen auf dem Weg zur Schule abgeschickt hatte, keine Reaktion gekommen war. Er schrieb eine SMS:

wo bist du?

Einen Augenblick später kam die Antwort:

Hier

du hast nicht geantwortet

wann?

du weißt was ich meine wir waren uns einig

quatsch

du hast es mir versprochen

geht nicht

wieso

nicht per handy

du hast es versprochen

wir müssen reden

Tim ließ das Handy sinken. Er wollte nicht reden. Er wollte, dass endlich etwas passierte. Er hatte seinen Teil der Vereinbarung eingehalten, und es war nur fair, dass Toy4You den seinen auch einhielt. Es lief immer gleich ab, dachte er grimmig. Jeder versuchte, jeden reinzulegen, und er hatte die Schnauze gestrichen voll davon. Aber was sollte er machen? Er konnte sich was anderes suchen, aber dazu hatte er keine Lust. Es hatte lange genug gedauert, bis er Toy4You gefunden hatte.

Er tippte seine Antwort ein.

Wo?

selbe Stelle

heute

heute abend

ok

Er klappte das Handy zu und steckte es in seine Hosentasche. Ein dickes Mädchen, dessen Namen er nicht kannte, beobachtete ihn von einer Bank aus. Als ihre Blicke sich begegneten, hob sie ihren Schulrock an. Spreizte die Beine. Sie hatte keine Unterhose an. Er hätte kotzen können. Er suchte sich eine Bank in einiger Entfernung und wartete darauf, dass er abgeholt wurde. Während er überlegte, wie er Kaveh auf der langen Fahrt ärgern konnte, fiel ihm ein, dass er sich die Hose bepisst hatte. Das würde Kaveh richtig auf die Palme bringen, dachte er schadenfroh.

ARNSIDE — CUMBRIA

Alatea Fairclough war immer wieder völlig fasziniert von der Morecambe Bay. So etwas hatte sie zuvor noch nie gesehen. Die Ebbe hatte mehr als dreihundert Quadratkilometer Watt freigelegt. Aber das Watt war so gefährlich, dass sich nur Leichtsinnige, die einheimischen Fischer oder der Wattführer zu Fuß dort hinauswagten. Wer ohne Führer ins Watt ging — und das machten viele Leute —, lief Gefahr, sein irdisches Dasein zu beenden, indem er im Treibsand versank, der sich für das ungeübte Auge in nichts von festem Boden unterschied. Manche blieben auch weit draußen in der Bucht zu lange auf einem Sandhügel stehen, der ihnen sicher erschien, wie eine Art Insel, nur um festzustellen, dass die Flut sie erst vom Festland abschnitt und ihnen dann den Sand unter den Füßen wegspülte. Denn wenn die Flutwellen wie galoppierende Pferde auf das Land zustürmten, wurde alles in kürzester Zeit vom Wasser verschlungen. Genau das fand Alatea so hypnotisierend an den Flutwellen. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen, und die Schnelligkeit, mit der sie kamen, sprach von einer Gewalt, die sich der Kontrolle des Menschen entzog. Und doch gab ihr der Gedanke Frieden: dass es eine Macht gab, die der Mensch nicht kontrollieren konnte, und dass sie diese Macht um Trost bitten konnte, wenn sie ihn am dringendsten brauchte.

Sie fand es großartig, dass dieses Haus — ein Geschenk ihres Schwiegervaters zur Hochzeit des einzigen Sohnes — direkt oberhalb des Kent Channel lag, einer vom Meerwasser in die Morecambe-Bucht gegrabenen Vertiefung. In ein warmes Schultertuch gewickelt konnte sie vom Ende des Grundstücks aus zuzusehen, wie die Flut hereinkam. Und sich einbilden, sie verstünde etwas davon, wie die Strudel sich bildeten.

Auch an diesem Novembernachmittag stand sie hier. Die Dunkelheit setzte bereits ein, und eine Wolkenbank im Westen über dem Humphrey Head Point kündigte Regen an, aber das machte ihr nichts aus. Im Gegensatz zu so vielen Menschen in ihrer Wahlheimat freute sie sich immer über den Regen, der Wachstum und Erneuerung versprach. Trotzdem war sie beunruhigt. Der Grund war ihr Mann.

Sie hatte nichts von ihm gehört. Nachdem sie bei Fairclough Industries angerufen und erfahren hatte, dass er nicht zur Arbeit erschienen war, hatte sie versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen. Den Anruf in der Firma hatte sie gegen elf Uhr getätigt, als er eigentlich noch hätte dort sein müssen. Für gewöhnlich fuhr er erst eine Stunde später zu dem Wehrturm-Projekt in Middlebarrow, wo er neuerdings den halben Arbeitstag verbrachte. Anfangs hatte sie angenommen, er sei früher als üblich dorthin aufgebrochen, und hatte es auf seinem Handy versucht. Aber sie hatte nur eine Nachricht hinterlassen können. Das hatte sie jetzt schon dreimal getan. Dass Nicholas sich nicht meldete, beunruhigte sie zutiefst.

Der plötzliche Tod seines Vetters überschattete ihr Leben. Alatea wollte lieber gar nicht darüber nachdenken. Der Tod eines Menschen, den man kannte, erschütterte einen immer, aber Ians Tod und die Umstände seines Todes erfüllten sie mit einer Angst, die sie nur mit allergrößter Mühe verbergen konnte. Dass Ian ertrunken war, hatte die Familie hart getroffen, vor allem Nicholas’ Vater. Anfangs war er derart am Boden zerstört gewesen, dass Alatea sich gefragt hatte, was für ein Verhältnis er eigentlich zu Ian gehabt hatte. Doch erst als Bernard angefangen hatte, sich von Nicholas zu distanzieren, hatte Alatea gespürt, dass hinter der Trauer des Alten noch mehr steckte.

Nicholas hatte nichts mit Ians Tod zu tun. Das wusste Alatea aus tausend Gründen, aber vor allem, weil sie ihren Mann kannte. Wegen seiner Vergangenheit hielten die Leute ihn für schwach, was er ganz und gar nicht war. Für sie war er der Fels in der Brandung, und das wäre er auch für viele andere, wenn sie ihm eine Chance gäben. Das Wehrturmprojekt in Middlebarrow hatte Nicholas so stark gemacht.

Heute war er allerdings auch nicht in Middlebarrow gewesen. Denn wenn er dort gewesen wäre, hätte er sein Handy eingeschaltet. Er wusste schließlich, wie wichtig es ihr war, ihn jederzeit erreichen zu können, und er hatte nichts dagegen, dass sie ihn hin und wieder anrief. Anfangs hatte er gefragt:»Vertraust du mir nicht, Allie? Ich meine, wenn ich rückfällig werde, werde ich so oder so rückfällig. Davon wirst du mich mit einem Anruf nicht abhalten können. «Aber das war nicht der Grund, warum sie stets in engem Kontakt mit ihm sein wollte.

Immer, wenn er nicht bei ihr war, fürchtete sie, dass ihm etwas zustoßen könnte. Ein Autounfall, ein Stein, der von dem alten Wehrturm fiel und ihn am Kopf traf, irgendein blöder Unfall … genau wie das, was Ian passiert war. Doch an Ian wollte sie jetzt nicht denken. Sie musste über zu viele andere Dinge nachdenken.