Sie wandte sich vom Anblick der Flut ab, die den Kent Channel wieder füllte. Am oberen Ende der weitläufigen Rasenfläche lag Arnside House. Einen Moment lang durchströmten sie Glücksgefühle beim Betrachten des Anwesens. Das Haus bot ihr eine Aufgabe, auf die sie all ihre Energie lenken konnte, und dafür war sie dankbar. Ob Bernard das gewusst hatte, fragte sie sich, als er es ihnen bei ihrer Rückkehr nach England geschenkt hatte?
«Nach dem Krieg diente es eine Zeitlang als Erholungsheim für Soldaten«, hatte er ihr erklärt, als er einen ersten Rundgang mit ihr gemacht hatte,»und dann war es ungefähr dreißig Jahre lang ein Mädcheninternat. Danach haben zwei Eigentümer es ein bisschen restauriert, um es wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Leider hat es zuletzt ein paar Jahre leer gestanden. Trotzdem hat es etwas ganz Besonderes, meine Liebe. Ich finde, das Haus hat es verdient, dass eine Familie darin lebt, dass Kinder darin herumtollen. Ja, mehr noch, es hat jemanden verdient wie dich, der ihm eine persönliche Note verleiht. «Die ganze Zeit hatte seine Hand sanft auf ihrem Rücken gelegen, während er mit ihr durch das Haus gegangen war. Er hatte eine Art, sie anzusehen, die sie ein bisschen irritierte. Manchmal schaute er erst Nicholas, dann sie, dann wieder Nicholas an, als könnte er nicht verstehen, was die beiden miteinander verband, weder, wo es herkam, noch, wie es überdauern sollte.
Aber das störte Alatea nicht. Ihr war nur wichtig, dass Bernard sie akzeptierte, und das tat er. Anscheinend glaubte er sie im Besitz irgendeiner geheimnisvollen Macht, die Nicholas beschützte, vielleicht eine Art Hexerei. Und die Blicke, mit denen er sie von Kopf bis Fuß musterte, sagten ihr, dass er eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte, worin diese Hexerei bestand.
Sie ging über das terrassenförmig angelegte Grundstück auf das Haus zu. Vorsichtig stieg sie ein paar moosbewachsene steinerne Stufen hoch, dann überquerte sie den Rasen zu einem Seiteneingang des Hauses. Sie öffnete die Tür und betrat das Wohnzimmer, dessen blassgelbe Wände selbst an grauen Tagen die Illusion von Sonnenlicht erzeugten.
Dieses Zimmer hatten sie als erstes renoviert. Von seinen Fenstern aus hatte man einen Blick auf die Terrasse, auf den Rasen und auf den Kent Channel. Wenn es dunkel war, konnte man sogar die Lichter von Grange-over-Sands oben auf dem Hügel sehen. Abends saß sie hier mit Nicholas am Kamin, dessen Flammen lange Schatten auf den Fußboden zauberten.
Es war noch ein bisschen früh für ein Feuer, aber sie zündete es trotzdem an, um sich zu trösten und sich zu wärmen. Dann trat sie an den Anrufbeantworter in der Hoffnung, dass ihr Mann eine Nachricht hinterlassen hatte, und als sie sah, dass das rote Lämpchen nicht blinkte, beschloss sie, ihn noch einmal anzurufen. Langsam tippte sie die Nummer ein, so wie man es macht, wenn man hofft, dass eine eben noch besetzte Leitung endlich frei ist. Doch noch bevor sie die komplette Nummer eingegeben hatte, hörte sie seine Schritte im Flur.
Sie hatte weder sein Auto vorfahren hören, noch, wie er das Haus betreten hatte. Aber sie wusste, dass es Nicholas war, ebenso wie sie an seinem leichten Schritt erkannte, in welcher Stimmung er war. Sie ließ das Handy in ihre Tasche gleiten. Als Nicholas nach ihr rief, antwortete sie:»Hier, Liebling!«, und im nächsten Augenblick war er auch schon bei ihr.
Er blieb in der Tür stehen. In dem weichen Licht wirkte er wie ein Engel, wie eine übergroße Putte aus einem Renaissance-Gemälde, das runde Gesicht von blonden Locken eingerahmt. Er sagte:»Du bist eine umwerfend schöne Frau. Ich hoffe, ich habe mich nicht im Haus geirrt. «Dann kam er auf sie zu. Ausnahmsweise trug sie flache Schuhe, so dass sie gleich groß waren: beide fast eins achtzig. So war es leichter für ihn, sie zu küssen, was er leidenschaftlich tat. Er legte die Hände auf ihren Hintern und zog sie an sich. Schließlich sagte er lachend:»Ich fühle mich, als könnte ich Bäume ausreißen!«, und einen schrecklichen Moment lang fürchtete sie, er hätte Drogen genommen. Doch dann zog er die Klammern und Kämme aus ihrem Haar, so dass es ihr auf die Schultern fiel, und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen, während er atemlos von» Schwimmern «berichtete,»Millionen, Allie, und die sind topfit und warten nur auf ihren Einsatz. Wann ist noch dein Eisprung?«Er küsste ihren Nacken und öffnete ungeduldig ihren BH.»Ach, vergiss es, es ist mir egal.«
Ihr Körper reagierte, obwohl ihre Gedanken in eine ganz andere Richtung gingen. Sie sank auf den Teppich vor dem Kamin, zog Nicholas mit sich und begann, ihn auszuziehen. Er war kein Mann, der wortlos Liebe machte.»Gott, dich zu fühlen!«, stöhnte er und» Ach, Allie «und» Ja, ja, genauso«, und deshalb bekam sie genau mit, wie seine Erregung sich steigerte.
So wie die ihre. Und obwohl ihre Gedanken wie immer zuerst zu einem anderen Ort wanderten, in eine andere Zeit, zu anderen Männern, landeten sie schließlich bei diesem Mann hier. Ihre Körper verschmolzen miteinander, und sie verschafften einander eine aus purem Genuss geborene Erleichterung, die alles andere unbedeutend erscheinen ließ.
Und das genügte ihr. Nein, für sie war es mehr als genug. Genug war für sie schon, dass Nicholas sie liebte und beschützte. Und dass sie darüber hinaus einen Mann gefunden hatte, mit dem sie sich im Bett so gut verstand, dass alle Erinnerungen und alle Ängste verblassten … Dass so etwas möglich war, hätte sie sich an jenem Nachmittag an der Kasse einer Cafeteria auf einem Berg in Utah niemals träumen lassen.
Nachdem er am nächsten Tag und die beiden Tage danach wiedergekommen war und bei ihr bezahlt hatte, hatte er sie gefragt, ob er sie am Nachmittag auf einen Kaffee einladen dürfe. Und hinzugefügt, er trinke keinen Alkohol, er habe gerade eine Entziehungskur wegen seiner Crystal-Meth-Sucht hinter sich, er sei Engländer und werde bald nach England zurückkehren und seinen Eltern beweisen, dass er die Teufel, die ihn so lange Jahre geritten hatten, endlich besiegt hatte, dass er … Er hatte gar nicht bemerkt, dass sich hinter ihm eine lange Schlange gebildet hatte. Sie dagegen schon, und um ihn zum Weitergehen zu bewegen, hatte sie gesagt:»Okay, wir können uns auf einen Kaffee treffen. Unten im Dorf gibt es ein Café, direkt gegenüber dem Skilift. Es heißt …«Er war ihr ins Wort gefallen:»Ich finde es, keine Sorge. «Und er hatte es gefunden.
Jetzt lagen sie nebeneinander auf dem Teppich vor dem Kaminfeuer. Er sagte:»Du solltest deine Hüften ein bisschen kippen, Allie. Meine kleinen Schwimmer sind topfit, aber abwärts schwimmen sie noch schneller. «Er stützte sich auf einen Ellbogen und schaute sie an.»Ich war in Lancaster«, sagte er.»Hast du versucht, mich anzurufen? Ich hab mein Handy abgeschaltet, weil ich wusste, dass ich dich nicht würde anlügen können.«
«Nicky …«Sie hörte selbst, wie geknickt sie klang. Sie wünschte, sie hätte ihre Enttäuschung verbergen können, aber noch schlimmer wäre es gewesen, sich die Angst einzugestehen, die sie plötzlich überkommen hatte.
«Nein, Liebling, hör zu. Ich musste den Test machen, einfach, um mir Gewissheit zu verschaffen. Ich habe meinen Körper über so viele Jahre regelrecht vergiftet … ich wollte es einfach wissen. Ich meine, hättest du das nicht auch gemacht an meiner Stelle? Zumal, wo immer noch nichts passiert ist?«
Sie drehte sich auch auf die Seite, einen Arm ausgestreckt, so dass sie den Kopf darauf ablegen konnte. Aber sie schaute an ihm vorbei nach draußen. Der Regen hatte eingesetzt und schlug gegen das Erkerfenster. Sie sagte:»Ich bin keine Gebärmaschine, Nicky. Oder wie heißen die Dinger?«
«Brutkasten«, sagte er.»Ich weiß, dass du kein Brutkasten bist. Und so habe ich dich noch nie betrachtet. Aber es ist doch verständlich … Ich meine, wir sind jetzt schon seit zwei Jahren verheiratet … und wir wollen es doch beide unbedingt …«Er streichelte ihr über den Kopf. Ihr Haar war nicht weich und glatt, so dass man mit den Fingern durchfahren konnte. Es war kraus und wild, das Geschenk eines ihrer Vorfahren — von welchem aus dieser unglaublichen Vielfalt an Ethnien, die sich in ihrem Land vermischt hatten, das wusste Gott allein.