«Und wenn nicht?«
«Wie meinst du das?«
«Na ja … dieser Zeitungsmensch, der so oft hier war … Was ist dabei rausgekommen? Nichts. All die Stunden, die du mit ihm verbracht hast, die langen Gespräche, die Führungen. Du hast ihn sogar am Turm mitarbeiten lassen. Und was ist passiert? Nichts. Er verspricht, einen ausführlichen Artikel über dein Projekt zu schreiben. Und? Wieder nichts. Ich möchte nicht schon wieder die Enttäuschung in deinem Gesicht sehen«, sagte sie. Weil man nie wusste, wo das hinführen konnte, würde er jetzt bestimmt denken, aber daran ließ sich nichts ändern.
Sein Gesichtsausdruck änderte sich, aber er sah nicht verkniffen aus. Im Gegenteil, er strahlte sie an, und dieses Strahlen war Ausdruck seiner Liebe.»Allie, mein Schatz«, sagte er.»Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, was Tag für Tag für mich auf dem Spiel steht. «Er nahm das Telefon in die Hand.»Es geht nicht um mein Ego. Es geht darum, Leben zu retten. So wie meins gerettet wurde.«
«Du sagst doch immer, ich hätte dir das Leben gerettet.«
«Nein«, erwiderte er.»Du hast mein Leben wieder lebenswert gemacht. Ich möchte wissen, was es mit diesem Film auf sich hat. «Er hielt das Telefon hoch.»Aber ich rufe nur an, wenn du einverstanden bist.«
Sie sah keinen anderen Ausweg. Er bat sie so selten um etwas. Nach allem, was er für sie getan hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu sagen:»Also gut, Nicky. Aber sei vorsichtig.«
«Super. «Er las die Nummer von dem Zettel ab, und während er sie eintippte, fragte er:»Wie war noch der Name? Ich kann das nicht lesen.«
Sie schaute über seine Schulter auf den Zettel.»St. James«, sagte sie.
Als die Tore der Margaret Fox School sich öffneten, atmete Manette Fairclough McGhie erleichtert auf. Sie hatte befürchtet, dass Niamh Cresswell vergessen hatte, bei der Schule anzurufen und Bescheid zu geben, dass ihr Sohn heute von jemandem abgeholt wurde, der nicht auf der offiziellen Liste stand. Das wäre zumindest typisch für Niamh gewesen. Sie wusste, dass Manette und Ian sich nahegestanden hatten, was Manette in Niamhs Augen zu einer Post-Scheidungs-Feindin machte. Aber anscheinend war Ians Exfrau zu dem Schluss gekommen, dass die Annehmlichkeit, noch jemanden zu haben, der bereit war, ihren Sohn von der Schule abzuholen, ihr Bedürfnis überwog, sich für alle echte und vermeintliche Schmach zu rächen, die man ihr angetan hatte. Niamh hatte gesagt:»Ich werde es Gracie sagen, damit sie sich keine Sorgen zu machen braucht, wenn Tim nicht zur üblichen Zeit nach Hause kommt«, so dass Manette sich schon fast verpflichtet fühlte, nicht nur Tim, sondern auch Gracie für den Tag zu sich zu nehmen. Heute allerdings wollte sie mit Tim allein reden, denn das Gesicht, das er auf der Beerdigung seines Vaters gemacht hatte, verfolgte Manette bis in ihre Träume. Es würde ihr zehnter Versuch werden, zu dem Sohn ihres verstorbenen Vetters durchzudringen. Sie hatte es beim Totenkaffee versucht. Sie hatte es mit Anrufen versucht. Sie hatte es mit E-Mails versucht. Und jetzt wollte sie es im direkten Gespräch versuchen. Schließlich konnte Tim ihr schlecht aus dem Weg gehen, wenn er bei ihr im Auto saß.
Sie hatte heute früher Feierabend gemacht und noch schnell bei Freddie vorbeigeschaut, um sich zu verabschieden und ihm zu sagen, dass sie später nach Hause kommen würde.»Ich hole Tim ab«, hatte sie gesagt.»Ich dachte, es macht ihm vielleicht Spaß, einen Abend mit uns zu verbringen. Abendessen und dann eine DVD. Du weißt schon. Vielleicht hat er ja auch Lust, über Nacht zu bleiben. «Freddies Antwort hatte sie ziemlich überrascht. Anstatt ein abwesendes» In Ordnung, Manette «zu murmeln, hatte ihr ehemaliger Lebensgefährte ihr sein von einem Sonnenbrand knallrotes Gesicht zugewandt und gesagt:»Ach so, äh …«, und nach weiterem untypischen Gestammel schließlich herausgebracht:»Ich hab heute Abend eine Verabredung, Manette.«
«Oh«, hatte sie geantwortet und sich bemüht, ihre Verblüffung zu verbergen.
«Ich finde, es ist allmählich an der Zeit«, hatte er hinzugefügt.»Wahrscheinlich hätte ich es dir eher sagen sollen, aber ich wusste nicht so richtig, wie ich es rüberbringen sollte.«
Manette gefielen die Gefühle nicht, die das alles in ihr auslöste. Sie rang sich ein Lächeln ab.»Das freut mich für dich, Freddie. Jemand, den ich kenne?«
«Nein, nein, natürlich nicht. Nur eine …«
«Wie habt ihr euch denn kennengelernt?«
Er schob sich von seinem Schreibtisch weg. Auf dem Monitor hinter ihm sah sie ein Diagramm. Sie fragte sich, woran er gerade arbeitete. Wahrscheinlich an der Einnahmen-Überschuss-Rechnung. Er musste auch noch die Gehälter und Prämien ermitteln. Ganz zu schweigen von der schwierigen Aufgabe, nach Ians Tod eine Bilanz zu erstellen. Wann hatte Freddie die Zeit gefunden, eine Frau kennenzulernen? Er sagte:»Darüber möchte ich jetzt nicht reden. Es ist mir irgendwie unangenehm.«
«Ach so. Verstehe. «Manette nickte. Er sah sie ernst an, offenbar gespannt auf ihre Reaktion, deshalb sagte sie leichthin:»Dann bring sie doch einfach mal mit nach Hause. Mal sehen, ob sie mir gefällt. Du wirst ja sicher nicht schon wieder einen Fehler machen wollen.«
«Du warst kein Fehler«, sagte er.
«Hm. Danke, dass du das sagst. «Sie kramte ihre Autoschlüssel aus ihrer Handtasche.»Du bist also noch immer mein bester Freund?«
«Noch immer und für immer.«
Was er nicht aussprach, war etwas, das sie auch so wusste: Sie konnten nicht ewig so weitermachen wie jetzt. Obwohl sie geschieden waren, lebten sie weiter so wie immer, mit dem einzigen Unterschied, dass sie kein gemeinsames Schlafzimmer mehr hatten und nicht mehr miteinander schliefen. Geblieben war die tiefe Freundschaft, die sie schon immer miteinander verbunden hatte und die letztlich die Wurzel des Problems war. Seit dem Tag, an dem sie sich entschlossen hatten, sich scheiden zu lassen, hatte Manette oft gedacht, dass vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn sie Kinder gehabt hätten. Dann wäre ihre Beziehung vermutlich nicht an den Punkt gelangt, wo sie nur noch über die Vor- und Nachteile einer selbstreinigenden und selbstdeodorisierenden Toilette hatten reden können — und wie man so ein Produkt am besten vermarktete. Wenn man es so weit kommen ließ, brauchte man sich nicht zu wundern, wenn irgendwann der Zauber weg war. Eine einvernehmliche Scheidung war ihnen als die beste Lösung erschienen.
Ihr war natürlich klar gewesen, dass Freddie irgendwann eine Neue haben würde. Sie selbst hatte auch nicht vor, ewig allein zu bleiben. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass es so bald passieren würde. Und jetzt fragte sie sich, ob sie insgeheim gehofft hatte, dass es gar nicht passieren würde.
Vorsichtig fuhr sie durch das Tor der Margaret Fox School. Sie war noch nie hier gewesen, aber Niamh hatte ihr erklärt, wo sie Tim finden würde. Es gebe einen beaufsichtigten Wartebereich in der Nähe des Verwaltungsgebäudes, hatte sie gesagt. Manettes Name würde auf einer Liste von Personen stehen, die Tim abholen durften. Sie solle ihren Ausweis mitnehmen. Oder noch besser ihren Pass, falls sie einen habe.
Sie fand Tim ohne Probleme, da die Einfahrt zur Schule direkt auf das Verwaltungsgebäude zuführte. Der Sohn ihres Vetters saß vornübergebeugt auf einer Bank, seinen Rucksack neben sich auf dem Boden. Er tat das, was nach Manettes Erfahrung die meisten Teenager heutzutage in jeder freien Minute taten — er verschickte eine SMS.
Sie hielt am Bordstein, aber Tim war so auf sein Handy konzentriert, dass er nicht einmal aufblickte. Das gab Manette Gelegenheit, ihn einen Moment lang zu beobachten. Nicht zum ersten Mal staunte sie darüber, welchen Aufwand Tim betrieb, um die Ähnlichkeit mit seinem Vater zu verbergen. Ebenso wie Ian war er spät in die Pubertät gekommen, und er befand sich immer noch mitten in einem Wachstumsschub. Er war also ziemlich klein für sein Alter, und ohne die Schuluniform wirkte er noch kleiner, da er nur unglaublich weite Sachen trug, die ihm um den schmächtigen Körper schlackerten. Selbst seine Baseballmütze schien ihm zu groß zu sein. Seine Haare, die er ewig nicht hatte schneiden lassen, hingen ihm bis über die Augen. Die musste er natürlich besonders verstecken, denn sie waren genauso groß und braun und klar wie die seines Vaters — und sie waren wie diese der perfekte Spiegel seiner Seele.