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Manette sah, dass er ärgerlich die Brauen zusammenzog. Offenbar gefiel ihm nicht, was er als Antwort auf seine SMS erhalten hatte. Er riss an seinen Fingern und biss dabei die Zähne so heftig zusammen, dass Manette es nicht mitansehen konnte. Sie sprang aus dem Auto und rief seinen Namen. Er blickte auf. Einen Augenblick lang wirkte er überrascht — Manette hätte gern gedacht freudig überrascht, aber das war sicherlich Wunschdenken —, dann war der finstere Blick wieder da. Er rührte sich nicht von seiner Bank weg.

«Hey, komm schon«, rief sie.»Heute bin ich deine Chauffeuse. Ich brauche deine Hilfe.«

«Ich hab schon was vor«, erwiderte er trotzig und gab eine neue SMS ein — oder tat zumindest so.

«Tja, ich weiß nicht, wie du von hier wegkommen willst«, entgegnete sie,»denn ich bin die Einzige mit einem fahrbaren Untersatz, die dir heute ihre Dienste anbieten wird.«

«Und wo ist Kaveh?«

«Was hat Kaveh denn damit zu tun?«

Tim blickte von seinem Handy auf und schnaubte verächtlich. Das Schnauben galt natürlich ihr, es war seine Art, blöde Kuh zu sagen, ohne es auszusprechen. Vierzehnjährige Jungs waren dermaßen leicht zu durchschauen …

«Komm schon, Tim«, sagte sie.»Lass uns fahren. Deine Mutter hat hier angerufen, und die Schule wird dich heute mit niemand anderem fahren lassen.«

Er wusste doch, wie das ablief. Und dass es keinen Zweck hatte, sich zu widersetzen. Er murmelte irgendetwas vor sich hin, raffte sich schließlich auf und schlurfte, den Rucksack hinter sich her ziehend, zum Auto. Dann ließ er sich mit so viel Wucht auf den Beifahrersitz fallen, dass das ganze Auto wackelte.»Immer mit der Ruhe«, sagte Manette.»Und anschnallen bitte. «Sie wartete, bis er ihrer Aufforderung nachkam.

Tim tat ihr leid. Das war alles zu viel für ihn gewesen. Er war im denkbar ungünstigsten Alter gewesen, als sein Vater die Familie verlassen hatte, ganz unabhängig davon, aus welchem Grund das geschehen war. Aber dass sein Vater sich als Homosexueller geoutet hatte und mit seinem Freund zusammengezogen war, hatte Tims ganze Welt auf den Kopf gestellt. Wie sollte er sich in solch einer Situation verhalten, und wie sollte er da seine eigene gerade erwachende Sexualität verstehen? In Manettes Augen war es kein Wunder, dass er verhaltensauffällig geworden war und jetzt die Sonderschule für verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche besuchte. Denn er war tatsächlich gestört. Wer wäre das an seiner Stelle nicht?

Vorsichtig fuhr sie vom Schulgelände und bog auf die Straße ein.»Im Handschuhfach liegen CDs«, sagte sie zu Tim.»Du könntest uns ein bisschen Musik auflegen.«

«Du hast sowieso nichts, was mir gefällt. «Er schaute aus dem Fenster.

«Wetten, dass ich doch was hab? Sieh doch einfach mal nach.«

«Ich bin verabredet«, sagte er.

«Mit wem?«

«Mit jemand.«

Wieder dieses verächtliche Schnauben. Er murmelte sich etwas in den Bart. Als sie ihn bat, es zu wiederholen, sagte er:»Vergiss es«, und betrachtete die Landschaft.

Dabei gab es weiß Gott nichts Faszinierendes zu sehen. Zwischen Ulverston und Great Urswick im Süden fuhr man durch eine weite, hügelige Landschaft, vorbei an Äckern, die durch Hecken oder Bruchsteinmauern von der Straße abgeschirmt waren, an Viehweiden, auf denen die allgegenwärtigen Schafe grasten, und an vereinzelten Erlen- und Birkenwäldchen.

Es war keine lange Fahrt. Manette wohnte in Great Urswick und damit näher an der Margaret Fox School als Tims andere Verwandten. Eigentlich, dachte Margaret nicht zum ersten Mal, wäre es nur logisch, wenn Tim während der Schulzeit bei ihr wohnen würde, und das hatte sie Ian und Niamh auch vorgeschlagen, kurz nachdem sie den Jungen auf der Schule angemeldet hatten. Doch Niamh hatte nichts davon wissen wollen. Sie müssten auch an Gracie denken, hatte sie gesagt. Das Mädchen wäre untröstlich, wenn sie die Nachmittage ohne ihren Bruder verbringen müsste. Margaret vermutete, dass noch etwas ganz anderes dahintersteckte, aber sie hatte nicht insistiert, sondern sich einfach vorgenommen, den Jungen so oft wie möglich zu sich zu holen.

Great Urswick war kaum mehr als eine Ansammlung von Häusern, die an einer Stelle entstanden waren, wo sich zwischen Bardsea und Morecambe mehrere Landstraßen kreuzten. Es gab einen Pub, eine Poststelle, ein Restaurant, zwei Kirchen und eine Grundschule, und das Dorf hatte den Vorteil, dass es an einem kleinen See lag. Die Häuser am Seeufer mit ihren weitläufigen Wassergrundstücken bildeten das Nobelviertel, wie Manette und Freddie sich gern ausdrückten.

Manette hielt vor einem dieser Häuser und sagte zu Tim:»Komm mal mit. Ich zeige dir, wobei ich deine Hilfe brauche.«

«Wieso hilft Freddie dir nicht?«, fragte Tim und machte keine Anstalten, aus dem Auto zu steigen.

«Freddie?«Manette lachte.»Unmöglich. Da müsste er ja erst einmal die Anleitung studieren, und das traue ich ihm nicht zu. Wir machen es folgendermaßen: Ich lese vor, und du baust das Ding auf. Hinterher machen wir uns Hamburger mit Fritten.«

«Aufbauen? Was denn? Das kann ich nicht.«

«O doch, das kannst du. Wart’s ab«, entgegnete sie.»Wir müssen hinters Haus gehen. Komm. «Sie ging los, ohne abzuwarten, ob Tim sich abschnallte.

Es handelte sich um ein Zelt. Natürlich hätte sie es selbst aufbauen können, mit oder ohne Hilfe. Aber es ging ihr in erster Linie darum, Tim zu beschäftigen und zum Reden zu bringen oder ihn zumindest dazu zu bringen, dass er etwas lockerer wurde.

Sie packte das Zelt aus und breitete es auf dem Rasen aus. Es war ziemlich groß, eher für eine vierköpfige Familie geeignet als für das, was Manette vorhatte, aber Zelte kaufte man in der Regel nicht im Herbst, und sie hatte sich mit dem zufriedengeben müssen, was im Angebot war. Als sie gerade dabei war, die diversen Heringe und Schnüre zu sortieren, hörte sie Tim ums Haus kommen.»Ah, da bist du ja«, sagte sie.»Möchtest du ein Häppchen essen, ehe wir anfangen?«

Er schüttelte den Kopf. Sein Blick wanderte vom Zelt zu Manette und dann zum See.»Wozu willst du das denn aufbauen?«, fragte er.

«Ach, das ist nur zum Üben«, antwortete sie.»Wenn wir den Dreh erst mal raushaben, fahren wir zum Scout Scar rauf.«

«Und was machen wir da?«

«Na, zelten natürlich. Was denn sonst? Deine Mutter hat mir erzählt, dass du neuerdings da oben wandern gehst, und da ich auch für mein Leben gern in den Bergen wandere, dachte ich, wir könnten mal zusammen losziehen, wenn du fit genug bist.«

«Du gehst doch gar nicht in den Bergen wandern.«

«Hast du eine Ahnung. Ich treibe jede Menge Sport. Und Freddie möchte nicht, dass ich am Straßenrand entlangjogge. Er hat Angst, dass ich irgendwann überfahren werde. Also los, worauf warten wir noch? Willst du wirklich nichts essen? Vanillekekse? Jaffa Cakes? Eine Banane? Toast mit Marmite?«

«Ich hab Nein gesagt!«, fauchte er.»Außerdem hab ich dir gesagt, dass ich ’ne Verabredung hab.«

«Wo?«

«Es ist wichtig. Ich hab versprochen, dass ich komme.«

«Wo?«

«Windermere.«

«Windermere? Mit wem zum Teufel triffst du dich denn in Windermere? Weiß deine Mutter davon?«Sie stand auf.»Was ist los, Tim? Hast du irgendwas vor, wovon du lieber die Finger lassen solltest?«

«Was soll das denn heißen?«

«Das weißt du ganz genau. Drogen, Alkohol, irgendwas Unsinniges, das …«

«Nein! Hör zu, ich muss dahin. Wirklich

Sie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was der Grund dafür war. Alles, was ihr als Erklärung einfiel, beunruhigte sie. Aber in seinen Augen lag etwas Gequältes, etwas, das sie um Hilfe anflehte. Sie sagte:»Ich kann dich da nicht hinbringen, ohne vorher mit deiner Mutter zu sprechen. «Sie ging in Richtung Haus.»Ich werde sie anrufen und …«