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«Nein!«

«Warum nicht? Tim, was ist los?«

«Das interessiert die doch sowieso nicht. Sie weiß nichts davon. Es spielt keine Rolle. Wenn du sie anrufst … Scheiße, Scheiße, Scheiße!«Er trampelte über das ausgebreitete Zelt und ging zum Steg hinunter. Dort lag ein Boot, doch er stieg nicht ein, sondern ließ sich auf die Planken fallen und verbarg das Gesicht in den Händen.

Manette sah, dass er weinte. Es brach ihr das Herz. Sie ging zu ihm und hockte sich neben ihn.»Tim, ich weiß, dass du es im Moment schwer hast. Dass das alles ganz schlimm für dich ist. Aber das geht vorbei. Das verspreche ich dir. Es geht vorbei, weil …«

«Du weißt überhaupt nichts!«Er sprang auf und schubste sie so heftig, dass sie umfiel.»Du weißt einen Scheißdreck!«Er trat auf sie ein. Ein stechender Schmerz fuhr ihr in die Niere. Sie wollte seinen Namen rufen, aber ehe sie dazu kam, trat er wieder zu.

3. November

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Lynley traf am Nachmittag in Ireleth Hall ein. Vor die Wahl gestellt, entweder zu fliegen, mit dem Auto oder mit dem Zug zu fahren, hatte er sich trotz der Länge der Strecke für das Auto entschieden und den Tag tief in Gedanken versunken in seinem Healey Elliott verbracht.

Er war am Abend zuvor nicht mit Isabelle zusammen gewesen. Sie hatte ihn eingeladen, und er wäre gern zu ihr gefahren, aber er war zu dem Schluss gekommen, dass es besser für sie beide war, wenn er diesmal nicht zu ihr ging. Obwohl sie das Gegenteil beteuert hatte, wusste er, dass sie das Ziel und den Grund seiner Reise in Erfahrung bringen wollte, und er hatte nicht vor, sie darüber aufzuklären. Lynley wollte den Streit vermeiden, den das Gespräch unweigerlich ausgelöst hätte. Isabelle hatte in den Monaten, seit sie zusammen waren, ihren Alkoholkonsum radikal eingeschränkt, und er befürchtete, dass irgendetwas — wie zum Beispiel ein Krach mit ihm — sie wieder zur Flasche greifen lassen könnte.

Darling, ich hatte ja keine Ahnung, dass du Frauen gegenüber so ein Feigling geworden bist, hätte Helen dazu gesagt. Aber so wie er das sah, hatte es nichts mit Feigheit zu tun, sondern mit Lebenserfahrung. Darüber und über sich und Isabelle hatte er fast auf dem ganzen Weg nach Cumbria nachgedacht. Und er hatte sich gefragt, ob sie zusammenpassten.

Die Flügel des großen schmiedeeisernen Tors von Ireleth Hall standen weit offen, als hätte man ihn bereits erwartet. Lynley fuhr im Schatten von steinalten Eichen über den Weg, der sich zum Windermere-See hinunterwand, und hielt schließlich vor einem eindrucksvollen, von grauen Flechten überzogenen steinernen Gebäude mit zahlreichen Giebeln und einem mächtigen Wehrturm, ein Hinweis auf das hohe Alter zumindest eines Teils des Gebäudes. Dreizehntes Jahrhundert, dachte Lynley. Mehr als vierhundert Jahre älter als sein eigener Herrensitz in Cornwall.

Zu beiden Seiten des Gebäudes erstreckten sich weitläufige Rasenflächen mit vereinzelten Eichen, darunter einige der ältesten, die Lynley je gesehen hatte, und Platanen, unter denen Damwild graste.

Lynley stieg aus und atmete tief ein. Die Luft war noch feucht vom Regen. Der See war vom Haus verdeckt, aber von den nach Westen gelegenen Fenstern aus hatte man wahrscheinlich einen fantastischen Blick aufs Wasser und das gegenüberliegende Ufer.

«Da sind Sie ja.«

Lynley drehte sich um, als er Bernard Faircloughs Stimme hörte. Der Mann kam aus einem Garten an der Nordseite des Gebäudes auf ihn zu, der von einer Mauer eingegrenzt wurde. Er begrüßte Lynley, fuhr voller Bewunderung mit der Hand über einen Kotflügel des Healey Elliott, erkundigte sich höflich nach Baujahr und Leistung des Oldtimers und fragte, ob Lynley eine angenehme Fahrt gehabt habe. Nach dem Austausch der Nettigkeiten führte er Lynley ins Haus. Sie betraten eine riesige, eichengetäfelte Eingangshalle, an deren Wänden blankpolierte Brustschilde alter Rüstungen hingen. Ein Feuer brannte in einem offenen Kamin, vor dem zwei Sofas einander gegenüberstanden. Über dem Haus schien eine tiefe Stille zu liegen, die nur vom Knistern des Feuers und dem Ticken einer Standuhr gestört wurde.

Fairclough sprach so leise, als befänden sie sich in einer Kirche oder als fürchtete er, dass jemand mithören könnte, obwohl sie allein waren, soweit Lynley das beurteilen konnte.»Ich musste Valerie mitteilen, warum Sie hier sind«, sagte er.»Wir haben keine Geheimnisse voreinander — wir sind seit mehr als vierzig Jahren verheiratet, und im Übrigen kann ich ihr sowieso nichts vormachen. Sie ist also im Bilde. Sie wird mitspielen, auch wenn sie nicht gerade begeistert davon ist, dass ich diese Sache ins Rollen gebracht habe. Aber sie versteht mich … So gut wie eine Mutter es eben verstehen kann, wenn es um ihr eigenes Kind geht. «Fairclough rückte seine Hornbrille zurecht und überlegte.»Aber sie ist die Einzige, die eingeweiht ist. Für alle anderen sind Sie einfach ein Mitglied aus dem Twins Club, der für ein paar Tage hier zu Besuch ist. Einige wissen über die Sache mit Ihrer Frau Bescheid. Das macht das Ganze … äh … glaubwürdiger. Ich hoffe, Sie haben damit kein Problem?«

Er wirkte nervös. Lynley fragte sich, warum. Weil er hier war? Weil er Polizist war? Oder weil zu befürchten stand, dass er bei seinen Nachforschungen auf etwas Peinliches stieß? Wahrscheinlich kamen alle drei Möglichkeiten in Frage. Auf jeden Fall machte Faircloughs Nervosität ihn neugierig.»Über Helens Tod wurde in allen Zeitungen berichtet«, sagte er.»Ich kann also kaum etwas dran ändern, dass die Umstände ihres Todes allgemein bekannt sind.«

«Gut, gut. «Fairclough rieb sich die Hände, wie um zu sagen: Packen wir’s an. Er lächelte.»Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer und führe Sie kurz durchs Haus. Für heute Abend habe ich ein Abendessen im kleinen Kreis geplant, nur für uns vier, und morgen können Sie dann vielleicht … Was auch immer Sie vorhaben.«

«Uns vier?«

«Unsere Tochter Mignon wird auch dabei sein. Sie wohnt nicht hier im Haus, denn in ihrem Alter braucht eine Frau ihre eigenen vier Wände. Aber sie wohnt ganz in der Nähe, und sie ist alleinstehend, und da Sie Witwer sind, dachten wir …«

Wenigstens besaß Fairclough den Anstand, in Verlegenheit zu geraten, dachte Lynley.

«… das würde Ihrer Anwesenheit noch etwas mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Ich habe mit Mignon nicht direkt über die Sache gesprochen, könnte mir jedoch vorstellen, dass sie Ihnen gegenüber gesprächiger ist, wenn Sie … ihr ein bisschen Interesse entgegenbringen.«

«Glauben Sie, sie hat etwas zu verbergen?«, fragte Lynley.

«Sie ist mir ein Rätsel«, antwortete Fairclough.»Mir ist es noch nie gelungen, bis zu ihr durchzudringen. Ich hoffe, dass Sie da mehr Glück haben. Kommen Sie. Hier entlang.«

Das Treppenhaus, dessen Wände mit Landschaftsaquarellen geschmückt waren, befand sich im Wehrturm. Sie stiegen ein Stockwerk hoch und betraten einen Korridor, der ebenso wie die Eingangshalle mit Eichenpaneelen getäfelt war, allerdings ohne die großen Fenster. Nur durch ein schmales Bleiglasfenster am Ende des Korridors fiel ein Lichtstreifen, in dem Staubflöckchen tanzten, als wären sie glücklich, der Gefangenschaft in dem persischen Läufer entkommen zu sein.

Sie betraten ein geräumiges Zimmer mit einem Erkerfenster, in dessen Laibung eine Bank eingebaut war. Fairclough führte Lynley an dieses Fenster.»Windermere«, sagte er überflüssigerweise.

Wie Lynley vermutet hatte, lag die Westseite des Hauses zum See hin. Das Gelände war in Terrassen angelegt. Die zwei oberen bestanden aus Rasenflächen, während die unterste, die direkt an den See grenzte, mit Kies bedeckt war. Dort standen verwitterte Tische, Stühle und Liegen. Weit entfernt im Nordosten ragte eine Halbinsel in den See, Rawlinson Nab, wie Fairclough Lynley erklärte. Etwas näher lag die winzige, von ein paar Eschen bewachsene Insel Grass Holme, die im Wasser zu treiben schien, und weiter draußen stach die Insel Grubbins Point wie ein Fingerknöchel aus dem Wasser.