«Wie schön, hier zu wohnen«, bemerkte Lynley.»Außer im Sommer vielleicht, denn ich könnte mir vorstellen, dass die Gegend dann von Urlaubern überlaufen ist. «Er wusste, dass Cumbria und ganz besonders der Lake District eins der beliebtesten Urlaubsziele Englands waren. Von Juni bis September wurde hier bei jedem Wetter gewandert, geklettert und gezeltet.
«Ehrlich gesagt, wünschte ich, ich könnte öfters hier sein«, sagte Fairclough.»Bei all den Terminen in der Firma in Barrow, bei der Stiftung, mit meinen Anwälten in London und beim Verteidigungsministerium schaffe ich es höchstens einmal im Monat hierher.«
«Verteidigungsministerium?«
Fairclough verzog das Gesicht.»Mein Leben ist vollkommen unromantisch. Ich stelle eine Komposttoilette her, an der die interessiert sind. Wir führen schon seit Monaten Gespräche.«
«Und die Anwälte? Gibt es ein Problem, über das ich Bescheid wissen müsste? Etwas, das mit der Familie zu tun hat? Mit Ian Cresswell?«
«Nein, nein«, sagte Fairclough.»Es handelt sich um Patentanwälte. Dann sind da noch die Anwälte der Stiftung. Das alles hält mich ziemlich auf Trab. Um das Haus hier kümmert sich Valerie. Da sie hier aufgewachsen ist, macht sie das gern.«
«Klingt, als würden Sie sich nicht allzu oft sehen.«
Fairclough lächelte.»Das Geheimnis einer langen, glücklichen Ehe. Ein bisschen ungewöhnlich, aber es funktioniert schon sehr lange. Ah, da kommt Valerie.«
Lynley schaute in den Garten hinaus in der Annahme, Fairclough habe seine Frau dort erblickt, doch der zeigte auf ein Ruderboot auf dem See, das sich dem Ufer näherte. Aufgrund der Entfernung war nicht zu erkennen, ob die rudernde Person männlich oder weiblich war.»Sie fährt zum Bootshaus«, sagte Fairclough.»Am besten, wir gehen gleich hin, dann kann ich Sie einander vorstellen. Bei der Gelegenheit sehen Sie auch, wo Ian … Na ja, Sie wissen schon.«
Als sie ins Freie traten, fiel Lynley auf, dass das Bootshaus vom Haupthaus aus nicht zu sehen war. Vom Südflügel von Ireleth Hall aus führte ein gewundener Weg durch einen Garten. Mahonien, mit der Stechpalme verwandte Sträucher, standen dort so dicht, als wüchsen sie dort schon seit hundert Jahren. Nachdem sie ein Pappelwäldchen durchquert hatten, öffnete sich vor ihnen eine fächerartig angelegte Anlegestelle, neben der sich das Bootshaus erhob: eine verspielte Konstruktion, mit den für die Gegend typischen Schieferplatten, einem Spitzdach und einer einzigen Tür. Fenster gab es keine.
Die Tür stand offen, und Lynley folgte Fairclough hinein. Im Innern des Bootshauses verlief entlang der zum Land gelegenen Giebelwand und der beiden Seitenwände ein gemauerter Anleger, gegen den die Wellen des Sees plätscherten. Ein Motorboot, ein Skullboot und ein uraltes Kanu waren daran vertäut. Fairclough erklärte Lynley, das Skullboot habe Ian Cresswell gehört. Valerie Fairclough hatte das Bootshaus noch nicht erreicht, aber sie konnten sie bereits sehen.
«Ian hat das Skullboot zum Kentern gebracht, als er gestürzt ist«, sagte Fairclough.»Da vorne. Da, wo die beiden Steine fehlen. Wahrscheinlich hat sich einer der Steine gelöst, als er darauf getreten ist. Dann hat er das Gleichgewicht verloren und ist ins Wasser gefallen, und dabei ist auch der andere Stein rausgebrochen.«
«Wo sind sie jetzt?«Lynley ging zu der Stelle und hockte sich hin, um die Stelle genauer zu betrachten. Im Bootshaus gab es kaum Licht. Er würde noch einmal mit einer Taschenlampe herkommen müssen.
«Was meinen Sie?«
«Die Steine, die sich gelöst haben. Wo sind die? Ich würde sie mir gern ansehen.«
«Soweit ich weiß, liegen sie noch im Wasser.«
Lynley blickte auf.»Niemand hat sie herausgeholt, um sie zu untersuchen?«Das war ungewöhnlich. Ein frühzeitiger Tod wie dieser warf alle möglichen Fragen auf. Und eine davon lautete, wie ein Stein sich aus dem Mauerwerk hatte lösen können, egal, wie alt der Anleger sein mochte. Natürlich konnten Alterserscheinungen die Ursache sein. Aber ein Meißel kam auch in Frage.
«Der Gerichtsmediziner hat, wie gesagt, auf Unfall entschieden. Dem Polizisten, der hergerufen wurde, kam alles ziemlich eindeutig vor. Er hat einen Inspector benachrichtigt, der hat sich umgesehen und ist zu demselben Schluss gekommen.«
«Waren Sie hier, als es passiert ist?«
«Nein, ich war in London.«
«War Ihre Frau allein, als sie die Leiche entdeckt hat?«
«Ja. «Er schaute in Richtung See.»Ah, da ist sie.«
Lynley stand auf. Die Frau ruderte mit voller Kraft, und das Ruderboot näherte sich zügig. Kurz vor der Einfahrt zum Bootshaus hob Valerie Fairclough die Ruder aus den Dollen und legte sie auf den Boden des Boots, das mit dem letzten Schwung hineinglitt.
Valerie Fairclough trug Regenkleidung: gelbe Öljacke und — hose, Handschuhe und Gummistiefel. Sie hatte jedoch weder einen Hut noch eine Mütze aufgesetzt, und ihr graues Haar wirkte wie frisch frisiert, obwohl sie über den See gerudert war.
«Was gefangen?«, fragte Fairclough.
Sie drehte sich um, schien jedoch nicht im Mindesten überrascht.»Ach, da bist du ja«, sagte sie.»Nein, ich hatte kein Glück heute. Ich war drei Stunden draußen und habe nur drei armselige kleine Geschöpfe gefangen, die mich so unglücklich angesehen haben, dass ich sie wieder ins Wasser geworfen habe. Sie müssen Thomas Lynley sein. Willkommen in Cumbria.«
«Nennen Sie mich Tommy. «Er streckte ihr seine Hand entgegen. Aber anstatt sie zu nehmen, warf sie ihm die Leine zu.
«Kopfschlag«, sagte sie.»Oder klingt das chinesisch?«
«Für mich nicht.«
«Sie gefallen mir. «Sie reichte ihrem Mann ihre Angelausrüstung: einen Angelkasten, eine Rute und einen Eimer mit Maden. Auf jeden Fall war Valerie Fairclough keine zimperliche Frau, dachte Lynley.
Sie stieg aus dem Boot, während Lynley es vertäute. Sie war unglaublich behände für ihr Alter, und sie war immerhin schon siebenundsechzig, wie Lynley wusste. Sie schüttelte ihm die Hand.»Herzlich willkommen«, sagte sie.»Hat Bernie Sie schon herumgeführt?«Sie zog ihre Regenkleidung aus und hängte Jacke und Hose an der Wand auf, während ihr Mann die Anglerausrüstung unter einer Bank verstaute. Als er sich zu ihr umdrehte, hielt sie ihm eine Wange für einen Kuss hin.»Darling«, sagte sie zur Begrüßung. Dann:»Wann bist du angekommen?«Worauf er erwiderte:»Heute Mittag«, darauf sie:»Du hättest eine Leuchtrakete abschießen sollen. «Ein Zwinkern.»Mignon?«, fragte sie. Darauf er:»Noch nicht. Alles gut?«Und sie:»Allmählich. «Es war, dachte Lynley, der typische Telegrammstil von Paaren, die schon sehr lange zusammen waren.
«Sie haben sich wahrscheinlich gerade angesehen, wo unser Ian ertrunken ist, nehme ich an«, sagte Valerie zu Lynley mit einer Kopfbewegung in Richtung des Skullboots.»Bernie und ich sind uns in der Sache nicht einig, aber das wird er Ihnen schon mitgeteilt haben.«
«Er sagte mir, dass Sie den Toten gefunden haben. Es muss ein Schock für Sie gewesen sein.«
«Ich hatte gar nicht gewusst, dass er mit dem Boot rausgefahren war, ja nicht einmal, dass er überhaupt hier war. Er hatte seinen Wagen ja nicht am Haus geparkt. Als ich ihn fand, lag er schon fast vierundzwanzig Stunden im Wasser, Sie können sich also vorstellen, wie er ausgesehen hat. Trotzdem bin ich froh, dass ich ihn gefunden habe und nicht Mignon. Oder Kaveh. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre.«
«Kaveh?«, wiederholte Lynley.
«Ians Lebensgefährte. Er führt hier auf dem Anwesen ein paar Arbeiten für mich aus. Ich lasse gerade einen Fantasiegarten anlegen, den hat er entworfen. Und jetzt beaufsichtigt er die Arbeiten.«