«Ist er jeden Tag hier?«
«Vielleicht dreimal pro Woche. Er meldet sich nicht bei mir an, und ich kümmere mich nicht darum. «Sie betrachtete Lynley, als versuchte sie zu ergründen, was in seinem Kopf vor sich ging.»Wäre es Ihnen recht, wenn der Gärtner der Mörder wäre?«
Lynley lächelte.»Vielleicht stellt sich ja auch heraus, dass der Gerichtsmediziner recht hatte.«
«Davon bin ich überzeugt. «Sie warf ihrem Mann einen Blick zu. Lynley sah, dass Fairclough konzentriert auf den See hinausschaute.»Es war ein schrecklicher Schlag für uns. Bernie und ich mochten Ian sehr. Wir hätten den Anleger besser in Schuss halten sollen. Er ist ziemlich alt — über hundert Jahre —, und er wurde ständig benutzt. Steine lockern sich mit der Zeit. Sehen Sie hier. Der ist auch locker.«
Sie stieß mit der Fußspitze gegen einen Stein neben der Stelle, wo die anderen beiden herausgefallen waren. Er war tatsächlich locker, genau, wie sie gesagt hatte. Aber das konnte natürlich auch daran liegen, dachte Lynley, dass jemand ihn absichtlich gelockert hatte.
«Wenn ein Unfall passiert, haben wir das Bedürfnis, einen Schuldigen zu finden«, sagte Valerie.»Und dieser Unfall war besonders tragisch, denn jetzt sind zwei Kinder ihrer verrückten Mutter ausgeliefert, und es gibt niemanden mehr, der einen mäßigenden Einfluss ausübt. Doch wenn in diesem Fall irgendjemand Schuld hat, dann bin ich das.«
«Valerie«, sagte ihr Mann.
«Ich bin verantwortlich für Ireleth Hall und das gesamte Anwesen, Bernie. Ich habe versagt. Und jetzt ist dein Neffe tot.«
«Ich mache dich nicht für seinen Tod verantwortlich«, entgegnete ihr Mann.
«Aber vielleicht solltest du das einmal in Erwägung ziehen.«
Sie schauten einander in die Augen, und Bernie wandte sich als Erster ab. Dieser Blick hatte Lynley mehr gesagt, als ihre Worte es getan hatten. Hier gab es tiefe und trübe Gewässer, und das galt nicht nur für den See.
4. November
Als sie sich entschlossen hatten, ein paar Tage nach Cumbria zu fahren, um Tommy zu helfen, hatte Deborah St. James sich vorgestellt, dass sie und Simon sich ein Zimmer in einem von wildem Wein überwucherten Hotel nehmen würden, mit fantastischem Blick auf einen der Seen. Sie wäre sogar mit einem Blick auf einen Wasserfall zufrieden gewesen, die es in der Gegend im Überfluss gab. Stattdessen waren sie in einem alten Gasthaus namens Crow & Eagle gelandet, das genau dort lag, wo man ein Gasthaus erwarten würde: an einer Kreuzung von zwei Landstraßen, über die die ganze Nacht Lastwagen rumpelten. Die Kreuzung wiederum lag in der Mitte des Marktfleckens Milnthorpe, und zwar so weit im Süden, dass die Gegend offiziell gar nicht zum Lake District gehörte, und das einzige Gewässer, das der Ort zu bieten hatte, war ein Bach namens Bela, der irgendwo in die Morecambe Bay mündete.
Simon hatte ihren Gesichtsausdruck bemerkt, als sie den Gasthof erblickt hatte, und gesagt:»Tja, wir sind schließlich nicht zu unserem Vergnügen hier, meine Liebe, aber wenn wir die Sache hinter uns gebracht haben, gönnen wir uns ein paar Tage Urlaub. «Dann hatte er grinsend hinzugefügt:»Und zwar in einem Luxushotel mit Blick auf Windermere, mit Kaminfeuer, Scones, Tee und allem, was das Herz begehrt.«
Sie hatte ihn mit zusammengekniffenen Augen angesehen und erwidert:»Ich nehme dich beim Wort.«
«Etwas anderes hätte ich auch nicht von dir erwartet.«
Am Abend ihrer Ankunft hatte sie auf ihrem Handy den Anruf erhalten, auf den sie gewartet hatte. Sie hatte sich mit demselben Spruch gemeldet, den sie an dem Tag bei jedem Anruf aufgesagt hatte, um sich daran zu gewöhnen:»Fotostudio Deborah St. James«, und hatte Simon zugenickt, als der Anrufer sich als Nicholas Fairclough vorgestellt hatte. Sie hatten nicht lange gebraucht, um sich zu verabreden. Er war bereit, sich mit ihr zu treffen und über das Projekt zu reden, dessentwegen sie angerufen hatte. Er hatte gefragt:»Dieser Dokumentarfilm … da geht’s doch nicht um mich, oder? Zumindest nicht um mein Privatleben?«Sie hatte ihm versichert, dass es nur um das von ihm ins Leben gerufene Projekt gehe, ehemaligen Drogensüchtigen unter die Arme zu greifen. Sie wolle zunächst ein Vorabinterview mit ihm führen, erklärte sie ihm. Anschließend würde sie einen Bericht für einen Produzenten von Query Productions schreiben, der darüber zu entscheiden habe, ob Faircloughs Initiative in den Dokumentarfilm aufgenommen würde.»Ich mache das bisher alles nur auf Verdacht«, hatte sie ihm erklärt.»Ich habe keine Ahnung, ob Sie am Ende in dem Film auftauchen werden. «Das schien ihn zu erleichtern, denn er hatte lebhaft geantwortet:»Also gut. Wann treffen wir uns?«
Jetzt war sie gerade im Aufbruch, um zu dem Treffen zu fahren. Simon telefonierte derweil mit dem Coroner und erzählte diesem eine Geschichte von einer Vorlesung, die er an der London University halten wolle. Sie fand, dass er wesentlich wortgewandter war als sie. Dass er sich so gut verstellen konnte, gab ihr zu denken. Es war kein angenehmes Gefühl zu wissen, dass der eigene Ehemann so ein geschickter Lügner war, wenn es darauf ankam.
Ihr Handy klingelte, als sie gerade ihre Sachen zusammensuchte. Sie warf einen Blick aufs Display und erkannte die Nummer. Diesmal brauchte sie sich nicht mit» Fotostudio Deborah St. James «zu melden. Der Anrufer war Simons Bruder David.
Sie wusste sofort, warum David sie anrief. Sie war bereits darauf vorbereitet.
«Ich dachte, du hast vielleicht ein paar Fragen, die ich dir leicht beantworten kann«, sagte David in einem aufmunternden Tonfall.»Das Mädchen möchte dich unbedingt kennenlernen, Deborah. Sie hat sich deine Website angesehen, die Fotos und alles. Simon meinte, du wärst ein bisschen besorgt wegen der großen Entfernung, weil ihr in London wohnt und sie hier in Southampton. Also, unter normalen Umständen hätte sie das auch gar nicht in Erwägung gezogen, aber sie weiß, dass Simon mein Bruder ist, und ihr Vater arbeitet schon seit über zwanzig Jahren hier in der Firma. In der Buchhaltung«, fügte er hastig hinzu. Was bedeuten sollte: Sie stammt aus einer anständigen Familie, als glaubte er, das Mädchen könnte schlechte Erbanlagen haben, wenn ihr Vater Hafenarbeiter wäre.
Sie wollten eine Entscheidung von ihr. Das konnte Deborah verstehen. Für David und Simon war diese Art der Adoption die perfekte Lösung eines Problems, mit dem sie und Simon sich seit Jahren herumschlugen. Sie waren es beide gewöhnt, jedes Problem im Leben ohne zu zögern anzupacken. Sie waren nicht wie sie, die ängstlich in die Zukunft blickte und sich ausmalte, wie kompliziert und belastend das Szenario werden könnte, das sie vorschlugen.
Sie sagte:»David, ich weiß es einfach nicht. Ich glaube nicht, dass es funktionieren würde. Ich kann mir nicht vorstellen …«
«Heißt das, du sagst Nein?«
Das war auch so ein Problem. Nein zu sagen, bedeutete nein. Um Aufschub zu bitten bedeutete, keine Position zu beziehen. Warum zum Teufel, fragte sie sich, konnte sie sich nicht zu einer klaren Haltung durchringen? Dass es vielleicht ihre letzte und einzige Chance war, müsste ihr die Sache doch eigentlich erleichtern. Aber sie war wie erstarrt.
Sie versprach, David zurückzurufen, erklärte ihm, sie habe es eilig und müsse sich jetzt auf den Weg nach Arnside machen. Ein schwerer Seufzer sagte ihr, dass ihm das nicht gefiel, doch er protestierte nicht. Simon enthielt sich eines Kommentars, obwohl er sein Gespräch beendet und zweifellos mitbekommen hatte, was sie zu David gesagt hatte. Sie verabschiedeten sich neben ihren beiden Mietwagen und wünschten einander viel Glück. Deborah hatte die kürzere Strecke zurückzulegen. Nicholas Fairclough wohnte am äußersten Ende von Arnside, einem Straßendorf, das sich südwestlich von Milnthorpe an einem Wattstreifen entlangzog, der bis zum Kent Channel reichte. Unten am Ufer standen Angler, allerdings konnte Deborah nicht richtig erkennen, in was die Leute angelten. Vom Auto aus war jedenfalls kein Wasser zu entdecken. Sie sah nur, wo die Gezeiten in der Bucht Mulden in den Sand gespült und Sandbänke errichtet hatten, die Gefahr verhießen.